Titelbild Barmer Arzneimittelreport 2020 mit stilisiertem Reagenzglas
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Barmer-Arzneimittelreport 2020 - Gefahr für Polypharmazie-Patienten

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Die Schnittstellen zwischen der ambulanten und der stationären Gesundheitsversorgung sind zentrale Schwachstellen im deutschen Gesundheitssystem. Beim Übergang zwischen dem stationären und ambulanten Bereich werden insbesondere behandlungsrelevante Informationen zur Medikation nicht in ausreichendem Maße weitergegeben. Häufig liegen dem Krankenhaus wichtige Informationen zum Patienten, zum Beispiel zur Medikation, nicht vor. Patientinnen und Patienten, die mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen müssen, sind dadurch unnötigen Risiken ausgesetzt. Dass Patienten mit Polypharmazie ihre Arzneimitteltherapie meist von drei oder mehr Ärzten erhalten, erschwert den notwendigen Informationsaustausch zwischen den Versorgungssektoren obendrein und gefährdet damit die Patientensicherheit. Aber auch nach Entlassung aus der Klinik werden Patient und weiterbehandelnde Ärzte nicht ausreichend über Therapieänderungen informiert. Das sind zentrale Erkenntnisse aus dem aktuellen Arzneimittelreport der Barmer.

Medikationsplan bei Krankenhaus-Aufnahme häufig nicht vorhanden

Rund 200.000 Menschen sind im Jahr 2018 in Hamburger Krankenhäusern operiert worden. Jeder vierte Patient, der in Hamburg stationär behandelt wird, nimmt fünf oder mehr Medikamente ein. In der Altersgruppe ab 65 Jahren steigt dieser Anteil auf 40,6 Prozent, insgesamt geht es um 47.800 Patienten.

„Bei diesen Patienten ist es besonders wichtig, dass sich ambulante Ärzte und die Mediziner im Krankenhaus bei der Medikation eng abstimmen“, sagt Frank Liedtke, Landesgeschäftsführer der Barmer Hamburg. Denn gerade bei dieser besonders gefährdeten Gruppe kommt es bei der Aufnahme ins und der Entlassung aus dem Krankenhaus häufig zu Informationsdefiziten mit schlimmstenfalls lebensbedrohlichen Folgen aufgrund von Behandlungsfehlern. So hatten nur 29 Prozent der Patienten bei der Klinikaufnahme den bundeseinheitlichen Medikationsplan dabei, der Informationsverluste zwischen Ärzten verhindern soll. Zudem verfügten 17 Prozent über gar keine aktuelle Aufstellung ihrer Medikamente, so die Ergebnisse einer Befragung von bei der Barmer versicherten Polypharmazie-Patienten über 65 Jahren. Vorhandene Medikationspläne waren zudem häufig unvollständig. „Es ist unverständlich, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus als hunderttausendfacher Prozess so fehleranfällig ist. Es muss verhindert werden, dass Patienten aufgrund von Informationsdefiziten zu Schaden kommen“, sagt Liedtke.

Patienten bekommen Therapiewechsel häufig nicht erklärt

Wie aus dem Barmer-Report weiter hervorgeht, fließen die Informationen zur Arzneimitteltherapie auch während des Klinikaufenthalts nur bruchstückhaft. So gaben über 30 Prozent der von der Barmer Befragten an, dass ihnen die Arzneitherapie vom Krankenhausarzt nicht erklärt worden sei. Jeder dritte Patient mit im Krankenhaus geänderter Therapie habe zudem vom Krankenhaus keinen aktualisierten Medikationsplan erhalten. „Eine Arzneitherapie kann nur erfolgreich sein, wenn der Patient sie versteht und mitträgt. Dazu muss er sie entsprechend erklärt bekommen. Informationsdefizite dürfen auch deswegen nicht auftreten, weil die Therapie nach einem Krankenhausaufenthalt häufig noch komplexer wird“, sagt Liedtke. Zudem würden die Medikationsrisiken im Krankenhaus nicht erkennbar geringer.

Weiterbehandelnden Ärzten fehlen Daten aus dem Krankenhaus

Den Reportergebnissen zufolge stockt zudem die Weitergabe von behandlungsrelevanten Daten aus dem stationären in den ambulanten Sektor. Indizien dafür liefert eine Umfrage für den Arzneimittelreport unter 150 Hausärzten. Demnach waren 40 Prozent der befragten Allgemeinmediziner mit den Informationen durch das Krankenhaus unzufrieden oder sehr unzufrieden. Nur bei jedem dritten betroffenen Patienten sind Therapieänderungen begründet worden. Wie die Routinedatenanalyse zeigt, waren 26,9 Prozent der Hamburger Patienten, die 2018 in einem Krankenhaus behandelt wurden, bereits vor Aufnahme in die Klinik Polypharmazie-Patienten. Nach dem Krankenhausaufenthalt steigt der Anteil auf über 33 Prozent im ersten Quartal. Im dritten Quartal nach dem Eingriff in der Klinik liegt der Anteil an Polypharmazie-Patienten noch immer bei knapp 29 Prozent.

Dr. Jana Husemann, Vorsitzende des Hamburger Hausärzteverbands, sagt: „Wir Hausärzte werden aus den Krankenhäusern fast nie kontaktiert. Ich weiß, dass die Kolleginnen und Kollegen dort unter einem extremen Zeitdruck stehen. Dennoch würde ich mir deutlich mehr Kommunikation wünschen.“ Das Problem betreffe auch die Arzneien: „Wir erleben häufig, dass im Krankenhaus die Medikation verändert wird. Leider fehlt dazu oft die Begründung im Entlassungsbrief.“

Frank Liedtke ergänzt: "Umfassende Informationen von der Klinik zum weiterbehandelnden Arzt sind unerlässlich. Dies gilt umso mehr, da stationär behandelte Patienten zunehmend älter sowie mehrfach erkrankt sind und polypharmazeutisch behandelt werden. Von einer modernen sektorenübergreifenden Versorgung kann derzeit leider nicht die Rede sein.“

Digitale Lösungen

Ursache der Informationsdefizite ist weniger der einzelne Arzt, als vielmehr der unzureichend organisierte und nicht adäquat digital unterstützte Prozess einer sektorenübergreifenden Behandlung. "Es ist nicht das Versagen der Ärzte, es ist eine Frage der Organisation. Es fehlt ein durchgängiges digitales System“, sagt Frank Liedtke. Auch Dr. Michael Baehr, Leiter der UKE-Apotheke, spricht von einer „gefährlichen Schnittstelle zwischen dem stationären und dem ambulanten Sektor“. Das UKE erfasse zwar schon seit vielen Jahren alle Patientendaten digital: „Aber in der ambulanten Welt sieht das noch ganz anders aus.“ Zu oft würden Arztbriefe noch ausgedruckt und eingescannt. Handlungsbedarf sieht Baehr auch für seine Zunft: „Man hätte die öffentlichen Apotheken gesetzlich in die Verantwortung nehmen müssen, bei jeder Abgabe eines Medikaments den Medikationsplan zu erneuern.“

"Jetzt muss nachgebessert werden, um die Risiken für Patienten auf ein Minimum zu beschränken und die Arbeit der Ärzteschaft zu erleichtern", fordert Liedtke. Ein Instrument für mehr Sicherheit und Transparenz in der Arzneimitteltherapie kann die elektronische Patientenakte (ePA) sein, die alle gesetzlich Krankenversicherten ab Januar 2021 freiwillig nutzen können. Frank Liedtke appelliert an die Eigenverantwortung: „Jeder sollte im eigenen Interesse genau berichten, welche Medikamente er nimmt. Und zwar auch die, die er ohne Rezept bekommt.“ Medikationsfehler führen jedes Jahr zu 250.000 Krankenhaus-Einweisungen.