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Tabu-Thema Reizdarmsyndrom: rund 26.000 Hamburger in Behandlung

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Hamburg, 18. April 2019 – Laut aktuellem Barmer-Arztreport erhielten rund 26.000 Hamburger im Jahr 2017 die Diagnose Reizdarmsyndrom. Hamburg liegt damit um 11 Prozent über den bundesweiten Diagnosezahlen. Dennoch handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs, denn zahlreiche Betroffene meiden aus Scham den Gang zum Arzt. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass durchschnittlich acht Prozent, also mehr als 120.000 erwachsene Hamburger, an Symptomen wie Durchfall, Krämpfen oder Verstopfung leiden.

„Wer denkt, dass nur ältere Menschen mit einer Reizdarmsymptomatik zu tun haben, der irrt“, sagt Frank Liedtke, Landesgeschäftsführer der Barmer in Hamburg. „Auffällig ist, dass zunehmend Jüngere erkranken“, so Liedtke weiter. So sei die Anzahl der Betroffenen im Alter von 23 bis einschließlich 27 Jahren zwischen den Jahren 2005 und 2017 bundesweit von knapp 40.000 auf rund 68.000 gestiegen. Dies sei ein Zuwachs von 70 Prozent. „Aufgrund dieser hohen Relevanz muss die Versorgung der Betroffenen deutlich besser werden“, fordert Frank Liedtke.

Durchschnittlich acht Jahre bis zur Erstdiagnose

Die Erkrankung an einem Reizdarmsyndrom wird oftmals lange Zeit nicht erkannt, wodurch die Leidtragenden eine falsche Therapie erhalten. „Die Betroffenen leiden mitunter schon viele Jahre an einem Reizdarmsyndrom und suchen deswegen immer wieder Hilfe beim Arzt. Sie durchleben eine wahre Arzt-Odyssee, bevor sie die richtige Diagnose erhalten“, sagt Barmer-Landesgeschäftsführer Liedtke.

Wer an einem Reizdarmsyndrom erkrankt ist, nehme den Reportergebnissen zufolge bereits acht Jahre vor der Erstdiagnose eine deutlich höhere gesundheitliche Versorgung in Anspruch als Vergleichspersonen, die diese Erkrankung nicht haben. Wenn die Diagnose feststehe, stiegen die Behandlungskosten noch einmal deutlich an. Das liegt u. a. auch daran, dass viel zu häufig bildgebende Verfahren eingesetzt werden. Gerade CT sollten aufgrund der hohen Strahlenbelastung nur zurückhaltend eingesetzt werden.

Trotzdem haben 9,2 Prozent der ambulanten und 5,6 Prozent der Fälle im Krankenhaus im Vorjahr bis zur Diagnose eine CT-Untersuchung erhalten. Ein ähnliches Bild zeigten die MRT, die sich ebenso wenig für die Diagnostik des Reizdarms eigneten. Trotzdem haben im selben Zeitraum ambulant 17,1 Prozent und im Krankenhaus 3,2 Prozent der Fälle ein MRT erhalten.

Multidisziplinärer Behandlungsansatz erforderlich

Menschen mit Reizdarmsyndrom leiden nicht an einer rein körperlichen Erkrankung. „Bei der Behandlung des Reizdarmsyndroms ist es besonders wichtig, den ganzheitlichen Blick auf Körper und Geist zu richten. Dies muss bei der Diagnostik und Therapie stärker berücksichtigt werden, schließlich sei nicht allein der Darm das Problem“, sagt Frank Liedtke. „Es ist enorm wichtig, dass die Reizdarm-Patientinnen und -Patienten die Behandlung erhalten, die sie brauchen“, so Liedtke weiter. Ein multidisziplinärer Ansatz, in dem Hausärzte oder Internisten eng mit Schmerztherapeuten, aber auch zertifizierten Ernährungsexperten zusammenarbeiteten, sei unerlässlich. Nicht fehlen dürfe der Aspekt der Psychosomatik. Das Reizdarmsyndrom könne eben auch seelische Ursachen haben.

Zweifelhafte Therapieansätze

In der üblichen Therapie der Betroffenen gibt es laut Arztreport verschiedene zweifelhafte Ansätze, die nicht frei von Risiken sind. Demnach wurden den Patientinnen und Patienten häufig Protonenpumpenhemmer, umgangssprachlich Magensäureblocker, verordnet. 38,6 Prozent, also rund 10.000 betroffene Hamburger, erhielten diese und somit 1,74-mal häufiger als nicht Erkrankte. „Es ist kritisch zu hinterfragen, dass so viele Menschen mit Reizdarmsyndrom Magensäureblocker erhalten“, so Liedtke. Eigentlich sollten sie zum Schutz des Magens gegen zu viel Magensäure eingesetzt werden. Der Nutzen bei einem Reizdarmsyndrom sei dagegen umstritten. Daher sollten sie nur dann über einen längeren Zeitraum verordnet werden, wenn eine medizinische Indikation bestehe.

Aber auch opioidhaltige Schmerzmittel wurden vergleichsweise häufig verschrieben und zwar an rund 100.000 Patienten und damit immerhin 44 Prozent mehr als in einer Vergleichsgruppe. „Eine reine Gabe von Medikamenten ist der falsche Ansatz und nicht nur die Wirkung ist fraglich, sondern auch das Risiko einer Medikamentenabhängigkeit gegeben", sagt Liedtke. „Damit wird den Menschen nicht wirklich geholfen. Ein Reizdarmsyndrom lässt sich nicht heilen, aber mit der richtigen Ernährung finden viele Menschen mit der Zeit heraus, was ihrem Darm guttut und was nicht“, so Liedtke weiter.