In eine offene Hand werden Tabletten gekippt.
Sucht

Wann ist man von einem Medikament abhängig?

Lesedauer unter 6 Minuten

Redaktion

  • Internetredaktion Barmer

Wer über einen längeren Zeitraum Medikamente einnimmt, kann abhängig werden. Häufig gelingt es den Betroffenen jedoch, die Sucht zu verheimlichen. Erst wenn der Leidensdruck zu groß wird, begeben sie sich in Therapie. Eine Suchtexpertin erklärt im Interview, auf welche Warnsignale man achten sollte und wie die Behandlung gelingen kann. 

Dr. Doris Krüger

Dr. Doris Krüger hat in ihrem Berufsalltag oft mit Menschen zu tun, die eine Medikamentensucht haben. 

Dr. Doris Krüger ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im Serrahner Diakoniewerk. Die Rehaklinik liegt am Ufer der Krakower Seenlandschaft bei Schwerin. Menschen mit verschiedenen Suchtproblematiken sollen hier in ein selbstbestimmtes Leben zurückfinden. Darunter sind auch viele Medikamentenabhängige. 

Frau Dr. Krüger, zu Ihnen in die Rehabilitationsklinik kommen Menschen nach einem erfolgreichen Medikamentenentzug. Welche Menschen sind das?
„Den typischen Medikamentenabhängigen gibt es nicht. Die Sucht zieht sich durch alle Altersklassen und soziale Schichten. Wir sehen hier junge und ältere Menschen, Hausfrauen, Akademikerinnen, Bauarbeiter, Sportler. Von außen merkt man ihnen die Sucht oft nicht an, sie wirken anders als Alkohol- oder Drogenabhängige. Einige typische Merkmale gibt es aber doch: Es sind vorwiegend Frauen und viele von ihnen haben chronische Vorerkrankungen wie Rückenschmerzen.“

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Ist dies auch der Grund, aus dem die Patienten die Medikamente ursprünglich verschrieben bekamen?
„Ja, etwa die Hälfte unserer Patienten hat mit der Einnahme aufgrund von Schmerzen begonnen. Mittel wie Ibuprofen werden vom Hausarzt relativ leicht und schnell verordnet. Chronische Schmerzen bedeuten einen großen Leidensdruck, daher verschaffen die Medikamente den Patienten eine langersehnte Erleichterung. Wir sehen aber auch Sportler, die Mittel zur Leistungssteigerung vor Wettkämpfen einnehmen und dann schleichend abhängig werden.“

Eine Medikamentensucht entwickelt sich also langsam über Jahre hinweg.
„Genau, oft beginnen die Patienten mit einer geringen Dosierung. Sie haben ja einen Grund: Ihre Schmerzen. Setzen sie das Mittel wieder ab, sind die Schmerzen jedoch wieder da. Daher schlucken die Patienten Ibuprofen oder Opioide über Monate und Jahre. Schleichend entwickelt sich eine Abhängigkeit. 

Es ist ein regelrechter Teufelskreis, denn Ibuprofen beispielsweise, das man gegen Kopfschmerzen schluckt, kann irgendwann selber zu Kopfschmerzen führen – und so nimmt der Betroffenen im ersten Moment noch mehr Schmerzmittel. Auch bei Angsterkrankungen steigern die Betroffenen oft die Dosis. 

Die Menschen beginnen zum Beispiel mit 0,5 mg Tavor und spüren eine Linderung der Angst. Doch irgendwann müssen sie die Dosis steigern, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Zu uns kommen Patienten, die vor dem Entzug 5 oder 6 mg Tavor genommen haben.“

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Wie kommen die Abhängigen an die Medikamente?
„Sie betreiben oft regelrechtes Arzt-Hopping. Möchte ihnen der Hausarzt keine Mittel mehr verschreiben, wechseln sie den Arzt oder gehen vom Hausarzt zum Beispiel zum Orthopäden. Viele der Medikamente sind aber natürlich auch frei verkäuflich in der Apotheke zu bekommen.“

Wann bemerken die Betroffenen, dass der Tablettenkonsum nicht mehr normal ist?
„Oft sehr spät, zu spät. Lange reden sie sich die Einnahme schön, denn sie haben ja eine Erkrankung, gegen die sie die Medikamente brauchen. Manche ahnen jedoch irgendwann, dass etwas nicht stimmt, wenn sie zum Beispiel eine Tablette vergessen oder eine zu geringe Dosis einnehmen und sie mit Schwindelgefühlen oder Kreislaufprobleme reagieren. 

Einige bemerken auch, dass sie gedanklich immer eingeengter sind und sich nur auf die Beschaffung der Medikamente fokussieren. Oder sie nicken beim Autofahren plötzlich ein, manche haben auch erhebliche Konzentrationsprobleme. 

Aufgrund der Nebenwirkungen kommen die wenigsten, diese zeigen sich erst in einem späten Stadium. Viel aufrüttelnder ist hingegen, wenn die eigenen Kinder oder der Ehepartner auf sie zukommen und sagen: „Ich kann mit dir gar nichts mehr unternehmen, du bist immer so abwesend.“ Dann geben sich viele einen Ruck und holen sich Hilfe.“

Es ist also wichtig, dass sich auch Verwandte oder Freunde trauen, den Abhängigen auf ihr Problem anzusprechen?
„Das wäre sehr wünschenswert, doch es ist schwierig. Die Menschen haben ihre Sucht ja oft auch daher so lange verborgen, weil sie nach außen hin zeigen möchten: Ich bin leistungsfähig, ich habe alles im Griff. Man könnte jedoch in einer ruhigen Situation sagen: „Mir ist aufgefallen, dass du dich in der letzten Zeit etwas verändert hast.“ Das könnte ein Anstoß sein, sich Hilfe zu suchen. Doch manchmal erreicht man damit auch das Gegenteil und es kommt zum Bruch.“

Warum ist es so schwer, das Medikament einfach nicht mehr zu nehmen?
„Ab einem gewissen Punkt ist selbstbestimmtes Aufhören nicht mehr möglich. Die Medikamente verändern den Körper auf biochemischer Ebene, der Abhängige kann nicht einfach so aufhören. Sucht ist – und das wird noch viel zu wenig verstanden - eine Krankheit.“

Fällt es den Betroffenen sehr schwer, sich Hilfe zu holen?
„Ja, sehr. Medikamentensucht bezeichnet man in Fachkreise oft auch als verdeckte Sucht, über die die Abhängigen nicht gerne sprechen. Sie halten sie sehr lange geheim, oft gibt es ein großes Schamgefühl: Warum schaffe ich es nicht selbst, das Medikament abzusetzen? Die Fassade hält oft jahrelang. Die Hürde zu einem Psychiater zu gehen ist sehr hoch, da dies in der Gesellschaft immer noch stigmatisierend ist. Das ist sehr schade, mehr Offenheit würde den Betroffenen viel Leid ersparen.“

Wen spricht man an, wenn man an sich selbst oder einem Verwandten ein Problem bemerkt?
„Es gibt viele Anlaufstellen: Suchtberatungsstellen, den sozialpsychiatrischen Dienst, Selbsthilfegruppen. Auch der Hausarzt kann Tipps geben und an Spezialisten verweisen. Wichtig ist vor allem, dass man nicht zu lange wartet.“

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Wie wird bei einer Suchttherapie vorgegangen?
„Erst einmal wird genau analysiert, wo der Betroffene steht und wie es ihm körperlich geht. Dann wird ein individueller Entzug geplant: Einige Medikamente wie Benzodiazepine dürfen nicht abrupt abgesetzt werden, sondern müssen ausgeschlichen werden. 

Die Nebenwirkungen könnten zu heftig sein, Angstattacken oder Krampfanfällen. Auf gar keinen Fall sollte man Medikamente eigenmächtig absetzen, das kann lebensbedrohlich werden. Der Entzug kann mehrere Tage und Wochen dauern.“

Danach kommen die Patienten zu Ihnen, in die Rehabilitationsklinik.
„Genau, da ist ein nahtloser Übergang wichtig. Bei Süchten gibt es meist nur ein kurzes Zeitfenster, in dem die Motivation zum Entzug und zu einer langfristigen Entwöhnung da ist. Daher werden die Betroffenen gleich aus der Akutklinik in die weiterführende Reha geschickt, diese wird bei der Krankenkasse oder der Rentenversicherung beantragt. Kommen die Betroffenen zu uns, sind sie clean und entgiftet. Sie werden medizinisch, diagnostisch aufgenommen. 

Es wird geprüft, ob sie internistische Begleiterkrankungen haben: Lungen- oder Magenprobleme, chronische Krankheiten, Infektionskrankheiten. Ihr Alltag in der Reha besteht dann aus sehr viel Einzel- und Gruppentherapien bei Psychologen. Auch gibt es sogenannte Arbeitserprobungen, weil viele Abhängige ihren Job verloren haben. Sie können auch Praktika in Unternehmen machen. So sollen sie nach vier bis sechs Monaten hoffentlich wieder in den Alltag zurückgeführt werden.“

Manche Abhängige können jedoch gar nicht vollständig auf ihr Suchtmittel verzichten, sie benötigen die Medikamente zum Beispiel gegen chronische Schmerzen.
„Das ist in der Tat sehr, sehr schwierig. Wenn es nicht anders geht, versuchen wir die Medikamente auf ein Minimum zu reduzieren. Die Rückfallgefahr ist jedoch immer da. Wir versuchen den Menschen aber in den Therapien zu vermitteln, wie sie damit umgehen, wenn der Suchtdruck zu groß wird. Auch wie sie auf einen möglichen Rückfall reagieren und wie sie sich schnell Hilfe holen können.“

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