Ein Junge sitzt auf dem Sofa und spielt ein Computerspiel.
Sucht

Computerspielsucht: Wann sollten Eltern eingreifen?

Lesedauer unter 6 Minuten

Redaktion

  • Internetredaktion Barmer

Nicht nur Alkohol und Zigaretten können süchtig machen, sondern auch das Internet und Computerspiele. Stundenlanges, exzessives Spielen in der virtuellen Welt kann andere Aktivitäten und das reale Leben in den Hintergrund rücken und weitere negative Konsequenzen haben. Alles dreht sich um Computerspiele, nicht selten leiden darunter zum Beispiel soziale Kontakte in der realen Welt. Im Gespräch erklärt Psychologe Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht an der Mainzer Universitätsklinik, wie eine solche Sucht nach Computerspielen entsteht, wann Eltern bei süchtigen Kindern und Jugendlichen eingreifen sollten und wie sie sich dann am besten verhalten.

Barmer: Herr Wölfing, mit den Einschränkungen während der Corona-Zeiten waren die Menschen häufiger alleine zu Hause, die Mediennutzung ist gestiegen und damit auch die Nutzung von Computerspielen. Kann da nicht schneller ein süchtiges Verhalten vor allem bei Kindern und Jugendlichen entstehen?

Klaus Wölfing: Natürlich sehen wir, dass die Menschen, vor allem auch Kinder und Jugendliche, länger im Internet surfen oder Computer spielen. Aber das ist eine ganz logische Folge der Veränderungen, die wir hatten und haben. Wir sind mehr zu Hause und beschäftigen uns mehr mit digitalen Medien wie Computerspielen. 

Das hat ja auch seine Vorteile: Durch die Online-Spiele im Internet können wir weiterhin mit unseren Verwandten, Bekannten oder Freunden in Kontakt bleiben. Inwieweit dadurch Süchte entstehen, das kann im Moment noch nicht gesagt werden. Was ich aber schon merke, ist, dass unsere Patienten stärker konsumieren und dass es für sie schwieriger ist, abstinent zu werden oder zu bleiben. Wir werden nicht häufiger kontaktiert - aber diejenigen, die bereits in Therapie sind, denen fällt die Therapie nun schwerer.

Wie viele Leute kontaktieren die Ambulanz im Laufe eines Jahres?

Die Ambulanz gibt es seit 2008 und in den ersten Jahren sind die Kontaktzahlen gestiegen. In den letzten drei, vier Jahren hat es sich auf einem stabilen Level eingependelt. Es sind 400 bis 500 Fälle im Jahr, in denen sich jemand an uns wendet. Bei etwa einem Drittel beraten wir, etwa zwei Drittel bekommen tatsächlich therapeutische Hilfe.

Portrait von Psychologe Klaus Wölfing

Psychologe Klaus Wölfing leitet eine Ambulanz für Spielsucht in Mainz. 


 

Wie viele Menschen sind in Deutschland von Internetsucht oder Computerspielsucht betroffen?

Die besten Zahlen, die wir dazu für Deutschland haben, stammen schon aus 2011. Damals hat die Universität Lübeck eine repräsentative Studie im Auftrag der Bundesdrogenbeauftragten durchgeführt. Da zeigte sich, dass ein Prozent der 14- bis 64-jährigen Deutschen als internetabhängig gelten. Also etwas über 500.000 Personen in Deutschland. Dazu kommen noch fünf Prozent, die einen problematischen Konsum haben.

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Was ist noch kritischer Konsum von Computerspielen, was ist schon Computerspielsucht?

Wir haben da einen Kriterienkatalog mit verschiedenen Verhaltensweisen. Zum Beispiel, ob jemand trotz negativer Folgen immer weiterspielt oder deswegen schulische und soziale Pflichten vernachlässigt. Wenn fünf oder mehr dieser Kriterien über einen Zeitraum von zwölf Monaten feststellbar sind, dann sprechen wir von einer Sucht

Bei drei oder vier Kriterien sprechen wir von einem Problemfall. Da stehen die Betroffenen auf der Schwelle zu einer Sucht nach Computerspielen.

Wenn die Betroffenen die Schwelle überschreiten und als süchtig gelten, wie läuft die typische Entwicklung einer Computerspielsucht ab?

Eine typische Sucht-Karriere? Dann sprechen wir erstmal von einem Jungen, denn die allermeisten Computerspielsüchtigen sind Jungs. Los geht es meistens mit sehr frühem, unreguliertem Spielen, dem von den Eltern keine Grenzen gesetzt werden. 

Typisch ist zum Beispiel, dass ein Kind einen Computer im eigenen Zimmer hat, es keine geregelten Spielzeiten gibt und das Kind den Eltern verheimlicht, wie viel es spielt. Besonders im Alter von zwölf bis 16 Jahren spielt es dann sehr intensiv. Freundschaften findet er oder sie zunehmend online, zieht sich zurück, die virtuelle Spielwelt wird immer wichtiger. Das Kind denkt auch, es ist ganz normal, dass es so viel spielt, denn seine Freunde – die er oder sie aus dem Spiel kennt – tun das ja auch.

Oder die spielen sogar noch mehr.

Genau, irgendwer spielt immer noch mehr und das dient dann als eine Art Entschuldigung. So entsteht eine Realitätsverzerrung.

Wie geht es weiter?

Die Betroffenen spielen immer weiter. Vielleicht schaffen sie das Abitur nicht, vielleicht müssen sie sogar wegen Fehlzeiten die erste Lehre abbrechen. Sie vermeiden Liebesbeziehungen oder sexuelle Kontakte. 

All das verstärkt ihre Ängste, denn die Betroffenen bekommen ja mit, dass sie älter werden, Freunde oder Bekannte ihren Abschluss machen, während sie immer noch Counterstrike, World of Warcraft oder League of Legends zocken. Aber statt Probleme anzugehen, holen sie sich positive Erlebnisse beim Spielen.

Wann verstehen sie, dass es mit der Computerspielsucht ein Problem gibt, das angegangen werden muss?

Zu spät. Leider. Einmal darin gefangen, hat man eine ganz andere Wahrnehmung von Normalität. Häufig erkennen Betroffene ihr Problem erst, wenn andere Freunde und Bekannte im gleichen Alter ihren Abschluss machen, ihren Master anfangen, ihr eigenes Geld verdienen, vielleicht sogar heiraten oder Kinder bekommen. Dann fragen sie sich: Und wo stehe ich? Das ist ein großer Motivationsgrund, sich Hilfe zu suchen und dann kommen sie zu uns in die Ambulanz.

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Da scheint es angemessen zu sein, wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte bei einer Computerspielsucht schon früher einschreiten. Wann sollten sie das tun?

Sie sollten einen Test machen: Hält es mein Kind sieben Tage lang ohne Computer aus? Das ist ein gutes Maß dafür, ob jemand schon ein problematisches Spielverhalten entwickelt hat.

Und wie reagieren Eltern, wenn sich das Kind gegen den 7-Tage-Test vehement wehrt?

Grundsätzlich würde ich mich erstmal mit anderen Eltern von Freunden austauschen – sollte das Kind noch Freunde haben. Wenn der 14-jährige Kumpel nur zwei, drei Stunden am Tag spielt und der eigene Sohn aber neun Stunden, dann kann man sich mit beiden zusammensetzen und einen Bezug zur Realität herstellen: Was ist tatsächlich normal? 

Eltern hören oft die Ausrede, dass die anderen genauso viel spielen. Es hilft aber schon auch, sich ernsthaft auf das Kind einzulassen. Also nicht immer nur um Spielzeiten zu feilschen, sondern zusammen etwas anderes zu unternehmen, am besten draußen. Wenn jedoch gar nichts hilft, sollten Eltern nicht zögern, professionelle Hilfe in Form einer Suchtberatung zu suchen. Die Experten können den Eltern ein gutes Feedback geben, ob in ihrem Fall noch alles normal ist oder ob man psychologische Hilfe braucht.

Bei welchen Symptomen ist eine Behandlung oder Therapie wegen Computerspielsucht bei Jugendlichen und Kindern dringend notwendig?

In jedem Fall ist eine Behandlung oder Therapie notwendig, wenn das Kind aggressiv wird und Geschwister oder sogar die Eltern schlägt oder anspuckt, wenn mal nicht gespielt werden darf. 

Das darf auf keinen Fall toleriert werden. Auch ist es ein Alarmzeichen, wenn Jugendliche nicht genug Schlaf bekommen, weil sie zu viel spielen – und das eben nicht in den Ferien, sondern unter der Woche. Ebenso wenn die Ernährung leidet und die Kinder zum Beispiel nicht mehr mit dem Rest der Familie essen. Oder wenn sie nicht mehr an sonstigen Aktivitäten teilnehmen, die sie früher nicht ausfallen ließen. Man kann es vielleicht so zusammenfassen: Wenn bereits Folgeschäden sichtbar sind.

Herzlichen Dank für das Interview, Herr Wölfing. 

Gut zu wissen: 2018 nahm die WHO die Diagnose „Gaming Disorder“ (umgangssprachlich übersetzt: Computerspielsucht) in ihren Katalog behandlungswürdiger Krankheiten auf. Seither gilt „Gaming Disorder“, also das exzessive Computerspielen von Ego-Shootern, Online-Rollenspielen und Co. als eigenständige Diagnose und wird als psychische Störung anerkannt.

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