Eine Jugendliche schaut nachdenklich auf ihr Handy.
Psychische Gesundheit

Cybermobbing: "Corona hat viele Probleme verschärft"

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Kai Lanz ist Mitbegründer und CEO von krisenchat.de. Das Hilfsangebot kooperiert mit der Barmer und bietet kostenlose Beratung für junge Menschen unter 25. Im Interview erzählt er, warum die Corona-Krise auch das Problem Cybermobbing verschärft hat, wie Krisenchat funktioniert und warum ihn das Thema Cybermobbing umtreibt. 

Junge Menschen wissen oft nicht, wo sie sich Hilfe holen können

Barmer-Internetredaktion: Worunter leiden die jungen Menschen, die sich an Euch wenden?

Kai Lanz: Thematisch haben wir die ganze Bandbreite an psychosozialen Belastungen. Von Kindesmissbrauch oder sexueller Gewalt, über Liebeskummer bis hin zu Depressionen und Suizidgedanken ist alles dabei. Diese gesamte Vielfalt der Gesellschaft und ihrer Belastungen bildet sich bei uns ab.

Kai Lanz

Falls man das so allgemein sagen kann: Was empfehlt Ihr jemandem, der zum Beispiel so depressiv ist, dass er gerade nicht mehr weiterweiß?

Natürlich ist jeder Mensch unterschiedlich, genauso wie die individuellen Lösungen. Was ich aber allgemein sagen kann ist, dass es unglaublich wichtig ist, über diese Probleme zu sprechen. Ob mit einer Freundin, einem Familienmitglied oder einer professionellen Beratungsstelle: Nur wenn man darüber spricht, kann man Hilfe bekommen. Und man sollte definitiv nicht denken, dass man alleine damit fertig werden muss.

Ihr geht ja davon aus, dass krisenchat.de mit seinen Angebotsmerkmalen eine wichtige Lücke schließt in der Gesundheitsversorgung. Denkst Du ansonsten, dass die Versorgung bzw. das Hilfsangebot bei psychischen Krisen in Deutschland so ist, wie sie sein sollte? Oder seht Ihr weiteren Verbesserungs- oder Entwicklungsbedarf?

Wir erleben, dass es für Kinder und Jugendliche an der Aufklärung und Information hapert: Viele junge Menschen wissen überhaupt nicht, wo sie sich Hilfe holen können.

Die Corona-Situation hat viele bestehende Cybermobbing-Probleme verstärkt 

Wie viele Eurer Chats hängen direkt oder indirekt mit der Corona-Krise zusammen? Könnt Ihr das einschätzen, zumindest gefühlsmäßig? Gibt es dazu Beispiele, die Dir besonders im Kopf hängen geblieben sind?

Ich glaube, dass die Corona-Krise viele bestehende Probleme verstärkt, aber natürlich auch neue Belastungen hervorruft. Da wir erst seit Mai existieren, kennen wir natürlich nur den Zustand während der Corona-Zeit. An den Hilfegesuchen sehen wir aber auf jeden Fall, dass krisenchat.de auch nach der Corona-Pandemie definitiv noch gebraucht werden wird.

Die WHO spricht von einer globalen „mental health crisis“. Drei Bundesministerien starten sogar gemeinsam eine „Offensive Psychische Gesundheit“, um dem Thema zu begegnen. Hast Du Ideen, woran es liegen könnte, dass immer mehr Menschen in psychische Krisen zu geraten scheinen?

Ich glaube es gibt da mehrere Faktoren. Erstens wird in unserer Gesellschaft immer offener mit psychischen Krisen umgegangen, weshalb auch mehr Fälle diagnostiziert werden, von denen früher niemand wusste. Andererseits hat wahrscheinlich auch die Digitalisierung einen großen Anteil daran: Das menschliche Gehirn ist nicht dazu gemacht, alle Probleme der ganzen Welt zu verarbeiten: Das ist aber durch die Informationsflut oft der Fall. Zudem hat die Digitalisierung auch Auswirkungen auf unsere Beziehungen zu Mitmenschen. Gerade in der jungen Generation treffen sich die Leute wohl seltener in Person – eine zwischenmenschliche Interaktion ist natürlich online sehr reduziert.

Ein Start-up gegen Cybermobbing: So ist krisenchat.de entstanden

Wie ist Dein persönlicher Bezug zum Thema Krisenintervention? Wie ist es dazu gekommen, dass Du ein Startup zu diesem Thema mitentwickelst?

Schon seit einiger Zeit arbeite ich mit drei meiner Mitgründer an exclamo, einer Software für Schulen, die es Schülern und Schülerinnen ermöglicht, leichter über Probleme wie Mobbing oder Diskriminierung zu sprechen. Da lag es in der Corona-Zeit für uns irgendwie nah, jungen Menschen auch unabhängig von Schulen bei ihren persönlichen Krisen zu helfen. 

Wie war der Weg von der Idee zum Launch eures Unternehmens? Wo steht ihr aktuell?

Durch die vermehrten psychosozialen Probleme während des Corona-Lockdowns (Ängste, Einsamkeit, Häusliche Gewalt, etc.) haben wir uns Anfang April gedacht, dass wir diese Menschen unterstützen müssen. Vier Wochen später sind wir dann schon mit krisenchat.de gestartet und bieten seitdem 24/7 Krisenberatung per Chat. Bis heute haben wir über 5.000 Beratungen durchgeführt und wachsen stark an.

Was ist das wichtigste Ziel von krisenchat.de? Welche Vision habt ihr?

Ich denke wir haben zwei übergeordnete Ziele. Das Erste ist, dass wir wirklich jeder jungen Person, die sich in einer persönlichen Krise befindet, helfen wollen (oder es zumindest anbieten). Dort draußen sind leider so viele Kinder und junge Erwachsene, die niemanden haben, mit dem*der sie kurzfristig über ihre Sorgen sprechen können. Zum anderen wollen wir zur Entstigmatisierung mentaler Krisen beitragen. Leider ist das immer noch ein Thema, worüber sehr ungern und selten gesprochen wird. Das führt dazu, dass Dunkelziffern extrem hoch sind und viele Menschen sich keine Hilfe holen: Sie denken, dass sie allein damit klarkommen müssen. Ich sage mal so: Wenn man sich ein Bein bricht ist es ja völlig normal zum Arzt zu gehen, aber nicht, wenn man psychische Herausforderungen hat?

Die Beratung wird durch freiwillige Krisenberater/innen durchgeführt. Welche Ausbildung haben diese und wie gewinnt ihr sie für krisenchat.de?

Die Beraterinnen und Berater von krisenchat.de haben größtenteils einen beruflichen Hintergrund als (approbierte) Therapeutinnen, Psychologen; Pädagoginnen und Ärzten. Einige sind in der Ausbildung (Abschluss Masterstudium Psychologie) und absolvieren bei krisenchat.de ihr begleitetes Pflichtpraktikum. Ein weiterer Teil hat bereits Beratungserfahrungen bei anderen Telefon- oder Chatberatungsangeboten. Die Beratenden verpflichten sich im Rahmen ihrer Chat-Tätigkeit zu regelmäßigen Weiterbildungen (Starter Training, Workshops, Supervisionen), die künftig auch als zeitlich flexible e-learning Weiterbildungen angeboten werden.

Die Krisenberaterinnen und Krisenberater engagieren sich bei krisenchat.de, weil sie entweder auf persönliche Empfehlung auf das Angebot aufmerksam gemacht worden sind, über den krisenchat.de Social Media Auftritt das Angebot kennengelernt haben oder einen der vielen Aufrufe in relevanten Einrichtungen (Universitäten; Ausbildungsinstitute) kennengelernt haben.

Gibt es bei den Chats, die Ihr führt, etwas, dass Dich überrascht, dass Du Dir vor der Gründung von krisenchat.de so nicht vorgestellt hättest?

Grundsätzlich hätte ich gedacht, dass wir deutlich mehr “Fake-Chats” bekommen, als es jetzt tatsächlich der Fall ist. Das ist natürlich großartig. Ich hätte auch nicht gedacht, dass sich so viele Menschen nach einer Beratung erneut melden. Das wollen wir eigentlich nicht fördern, weil wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten wollen und die Hilfesuchenden nicht von uns abhängig machen wollen. Aber viele Hilfesuchende haben auch mehrere Probleme, die sie alleine nicht gelöst bekommen. Wenn sie uns kennen kommen sie zurück, weil wir ihnen bereits gut zur Seite standen.

Ihr hattet ja kürzlich ein bemerkenswertes Erlebnis mit einem TikTok-Post. Magst Du ein bisschen schildern, was da abgelaufen ist?

Ein Mädchen, der wir anscheinend super geholfen haben, hat unser Angebot auf TikTok gepostet, und es anderen Menschen mit psychischen Krisen empfohlen. Das hat offenbar einen Nerv getroffen: Das Video wurde um 17.00 Uhr gepostet und es kamen an dem Tag noch über 300 neue Chats an, am nächsten Tag nochmal mehr als 100. Da haben wir teilweise mehr als 130 Chats gleichzeitig beraten. Mit Stolz können wir aber sagen: Wir konnten den Ansturm am Ende super bewältigen, dank der tollen ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater, die wirklich alles gegeben haben.

Was ist Euer Fazit aus dieser Episode? Was heißt das für die Zukunft?

Wir haben erneut erfahren, wie viele junge Menschen es gibt, die aktuell noch keine Hilfe bekommen - entweder, weil bisherige Angebote nicht niedrigschwellig genug für sie sind, oder weil sie sie gar nicht kennen. Das hat uns in unserer Mission noch einmal extrem bestärkt und uns gezeigt, dass ein Angebot wie krisenchat.de wichtig für die Gesellschaft ist.

Belastet Dich das, was Du von den Chats selbst siehst oder über Kollegen mitbekommst? Wie gehst Du mit der Belastung um? Bekommst Du auch selbst Supervision oder emotionale Hilfe?

Ich kann mich allgemein ziemlich gut von den Chats abgrenzen - das hängt auch damit zusammen, dass ich ja selbst nicht mit den Hilfesuchenden schreibe. Aber natürlich gibt es auch mal Situationen, wo es mir nicht gut geht. Da hilft oft ein Austausch unter uns Gründern, außerdem arbeiten wir auch regelmäßig mit einem Therapeuten / Supervisor zusammen, der uns hilft mit den Belastungen umzugehen.

Möchtest Du noch etwas ansprechen?

Diese Gelegenheit möchte ich nutzen, um an alle Individuen zu appellieren. Jeder Mensch kann dazu beitragen, dass wir in unserer Gesellschaft offener mit psychischen Belastungen umgehen: Indem man selbst seine Probleme teilt, und anderen Mitmenschen zuhört, und sie ermutigt darüber zu sprechen. Denn psychosoziale Herausforderungen sind definitiv nichts “Krankes” - sondern menschlich.