Für eine Medizin, die von Neugierde und Offenheit geprägt ist, in der Diversität gelebt und praktiziert wird, trete ich mit Nachdruck ein. Neben biologischen Merkmalen sind gleichermaßen soziale Determinanten bei der Gesundheitsversorgung zu berücksichtigen. Alter, Geschlecht, Bildung, Herkunft, ökonomische Verhältnisse, individuelle Werte und viele bedeutende Faktoren mehr müssen bei der Gesundheitsversorgung stärker in den Vordergrund treten. Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Armut krank macht, fordert verantwortliches Handeln.
Ich plädiere für eine personalisierte Medizin, in welcher der Mensch auch mit seinem biologischen (sex) und sozial erlebtem (gender) Geschlecht im Mittelpunkt steht. Für eine geschlechtersensible Medizin, in der binäres Denken (Mann vs. Frau) überwunden ist. Geschlechtersensible Medizin ist wichtig. Aber was wissen wir hierüber tatsächlich schon? Und woran müssen wir in der Zukunft noch arbeiten? Aus meiner Sicht gibt es hier reichlich zu tun in Forschung und Lehre, in Aus-, Weiter und Fortbildung.
Gendermedizin
Gendermedizin nimmt geschlechtsspezifische Unterschiede wahr, mit dem Ziel der besten Behandlung für den einzelnen Menschen. Männer, Frauen und diverse Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse.
Sex
Für gewöhnlich fokussiert die Forschung in der Medizin auf einen durchschnittlichen Menschen, in der Regel einen Mann. Es gibt aber bekannte biologische Unterschiede; so gibt es biologisch männliche und weibliche Merkmale, die eindeutig binär ausgeprägt sein können; oder eben nicht, dann sprechen wir von intergeschlechtlich oder inter* oder lesen von divers.
Dass die sozialen Kontexte auch dazu beitragen, ob und wie sich bestimmte Erkrankungen entwickeln, liegt nahe. Wie verschieden Symptome erlebt werden und welche Auswirkungen dies auf die konkrete Behandlung des einzelnen Menschen hat, sind bisher unzureichend eingenommene Perspektiven. Es ist weitere systematische Forschung von Nöten.
Gender
Mit sozialem Geschlecht (gender) ist bekanntermaßen unsere Selbstwahrnehmung gemeint, also nichts Geringeres als unsere Identität und damit auch die Frage, in welchem Geschlecht wir uns empfinden. Und auch hier kann sich der Mensch binär, also wieder eindeutig männlich oder weiblich (und damit cis*) oder eben nicht, also divers (und damit trans*), empfinden.
Allein diese Tatsache dürfte vielen Menschen und auch vielen Professionellen in der Medizin nicht ganz vertraut sein. Hier ist Bildungsarbeit zu leisten und auch Forschung. Was wissen wir tatsächlich darüber, ob und inwiefern das soziale Geschlecht Auswirkungen auf die Manifestation bestimmter Krankheiten hat? Dass die Zugänge zur Gesundheitsversorgung und auch das Präventionsverhalten auch vom erlebten Geschlecht abhängen, ist naheliegend. Aber auch hier besteht Forschungsbedarf.
Trans* und Cis*
Gerade trans* Menschen sind in der medizinischen Forschung – auch in der bisher von der Gendermedizin geleisteten – wenig berücksichtigt. Und doch sind deren Bedürfnisse und Erfahrungen anders als diejenigen von cis* Menschen. Dass das Verhalten aller Menschen in einem Spannungsfeld von gesellschaftlichen Normen, Erwartungen und Lebensformen steht, die primär an der Mehrheit orientiert sind, dürfte keiner mehr ernsthaft infrage stellen. Dass sich gerade für Minderheiten hieraus psychische Krankheiten wie beispielsweise eine Anpassungsstörung oder eine Depression entwickeln können, allemal bei einer internalisierten Phobie gegenüber dem Anderssein, ist bekannt.
Inwiefern diskriminierende Erfahrungen auch weitere Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben, ist weiter zu erforschen. Hier gibt es eine klar zu benennende Forschungslücke, es gilt die Gender Data Gap durch eine Intensivierung weiterer geschlechtersensibler Forschung zu schließen.
Die Barmer unterstützt das Versorgungsforschungsprojekt TRANSKIDS-CARE im Innovationsfonds. Ziel ist es die medizinische Versorgungspraxis für Minderjährige zu verbessern, deren Geschlechtsidentität nicht den anatomisch-biologischen Gegebenheiten ihres Körpers entspricht.
„Männlicher“ Herzinfarkt?
So wissen wir mittlerweile, dass der „männliche“ Herzinfarkt bei Frauen zwar seltener vorkommt, dann aber schwerer verläuft, und im Notfall die Sterblichkeit höher ist. Frauen zeigen beim Herzinfarkt andere eher untypische Symptome wie beispielsweise Abgeschlagenheit, Übelkeit, Schmerzen im Rücken, in der Schulter oder am Nacken. Und sie haben auch andere Risiken, auch abhängig vom Alter. So versiegt nach der Menopause der protektive Schutz der Gefäßerweiterung durch die Östrogene, und das Risiko für einen Herzinfarkt steigt. Frauen erkranken zwar später an einer Koronaren Herzerkrankung, mit über 70 Jahren sind die damit verbundenen Gefahren aber deutlich höher.
Auch das Verhalten ist divers. So rufen Frauen später den Notarzt. Sie wollen niemandem zur Last fallen. Dies hat viel mit Rollenstereotypen zu tun, die in einer modernen und von Diversität geprägten Gesellschaft zu überwinden sind. Bei der Therapie gibt es eine Reihe von geschlechtersensiblen Faktoren, wenn man allein an den Stoffwechsel und die Wirkung von Medikamenten denkt. Aber wie weit sind wir hier schon wirklich in der Forschung?
Mein Eindruck ist, dass unser geschlechtersensibles Wissen über Herz-Kreislauf-Erkrankungen gewachsen ist, zugleich aber weiterer Forschungsbedarf besteht. So dürfte sich beispielsweise der erlebte Alltagsstress bei trans* Menschen deutlich auf die Risiken für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung auswirken. Wird dieses geschlechtersensible Wissen im Studium bereits vermittelt? Und wissen die Betroffenen hiervon?
Jedes Individuum soll über sein personalisiertes Risiko gut Bescheid wissen, um gezielt die eigene Gesundheit zu fördern, präventive Maßnahmen zu ergreifen und gegebenenfalls frühzeitig Symptome selbst erkennen zu können.
Geschlechterdifferente Einflussfaktoren
Geschlechtersensibles Wissen ist zum Teil von der Forschung generiert worden. Es ist aber noch zu wenig bekannt und muss breiter gestreut werden – nicht zuletzt müssen die Betroffenen hierüber besser aufgeklärt werden. Was wissen wir wirklich schon über geschlechterdifferente Risiken bei bestimmten Erkrankungen? Gibt es Essstörungen wirklich nur bei Frauen? Nein, tatsächlich können alle Geschlechter, auch alle Bereiche der Gesellschaft hiervon gleich betroffen sein. Das Verhalten ist verschieden, so kann noch manch betroffener Mann nicht eingestehen, an einer „weiblichen“ Essstörungen erkrankt zu sein. Solche gesellschaftlichen Stereotype sollen überwunden werden.
Wirken Medikamente bei den verschiedenen Geschlechtern unterschiedlich? Hier werden biologische Merkmale wie beispielsweise bestimmte Hormone eine Rolle spielen, aber auch Lebensformen und das Verhalten erlebten Geschlechts sowie damit gelebter Identität. Sind Frauen wirklich häufiger von Nebenwirkungen betroffen? Hier besteht weiter großer Forschungsbedarf.
Tatsächlich werden aus Gründen der Sicherheit in Bezug auf die Fruchtbarkeit Arzneimittelstudien der Phase 1 primär an Männern durchgeführt. Bei späteren Phasen muss aus Gründen der Sicherheit darauf geachtet werden, dass keine Schwangerschaft vorliegt und dass angemessen verhütet wird. Frauen können also im späteren Verlauf dieser Arzneimittelstudien durchaus einbezogen werden, so die Risiken minimiert werden.
Allerdings fällt bei der Rekrutierung noch immer auf, dass es eine Geschlechterdifferenz gibt, die von der Forschung zu überwinden ist. Dieses Ungleichgewicht hat Auswirkungen auf die Interpretation der Ergebnisse und gilt gleichermaßen für Alter, Herkunft, Bildung, und speziell auch für Minoritäten. Die Rekrutierungspraxis soll deutlich diverser sein, damit die Ergebnisse auch der Diversität in der Medizin Rechnung tragen können.
Hormone und Immunologie
Frauen und Männer sind von Lungenkrankheiten verschieden betroffen und erleben ihre Erkrankung divers. Frauen rauchen kürzer und haben andere Symptome als Männer; so haben Frauen bei einer Chronisch-Obstruktiven-Pulmonalen-Erkrankungen beispielsweise mehr Husten und Kurzatmigkeit und können zusätzlich auch noch eine Depression und eine Osteoporose haben. Lungenkrankheiten werden bei Frauen zu wenig diagnostiziert und sie werden seltener von spezialisierten Einrichtungen gesehen.
Die weiblichen Geschlechtshormone Östrogen und Progesteron können protektiv wirken und das Lungengewebe elastisch halten. Zugleich gehen wir davon aus, dass Östrogenrezeptoren in bestimmten Konstellationen die Entstehung von Lungenkrebs begünstigen. Auch kann durch Östrogen oxidativer Stress entstehen, der durch mehr reaktive Abbauprodukte das Lungengewebe schädigen und damit zu entzündlichen Reaktionen in der Lunge führen kann.
Welche Auswirkungen Hormonbehandlungen bei Geschlechtsangleichungen haben, ist noch zu wenig erforscht. Doch wäre dieses Wissen gerade für trans* Menschen so wichtig. Hier besteht dringend Forschungsbedarf. Und sobald wir mehr darüber wissen, müssen die Lehrbücher dieses Wissen rasch integrieren. Nur so kann der beste Versorgungsstandard gewährleistet werden.
Testosteron wiederum hat eine protektive Wirkung, wirkt hemmend auf bestimmte Immunzellen und kann vor allergischem Asthma schützen. Auch das Alter spielt eine Rolle: So erkranken in der Kindheit mehr Jungen an Asthma, während im Erwachsenenalter mehr Frauen hieran leiden.
Generell stellen wir fest, dass immunologische Prozesse eine Altersdeterminante haben, aber auch der Geschlechtersensibilität unterliegen. So sind Frauen generell häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen. Überhaupt gibt es bei rheumatischen Erkrankungen geschlechtsspezifische Unterschiede.
Geschlechterdifferenzen und Stereotype
Männer erkranken häufiger an Darmkrebs, Frauen mehr an Reizdarmsyndromen und Morbus Crohn. Das Alter, die Herkunft und der geographische Lebensraum spielen eine Rolle bei Darmerkrankungen. Das Präventionsverhalten von Frauen und Männern ist verschieden. Gerade hier sind Gesundheitsförderung und Vorsorge so wichtig. Frauen und Männer werden auch unterschiedlich versorgt und bekommen andere Therapien verordnet. Ist das wirklich so und wenn ja, warum eigentlich? Kann es wirklich sein, dass sich unsere Darmflora geschlechterdifferent verhält? Über den Darm ist viel geschrieben worden, aber gibt es auch hierüber verlässliches Wissen?
Einerseits gibt es Einflussfaktoren des Lebensstils wie Fleischkonsum und Bewegungsmangel. Andererseits gibt es biologische Merkmale, die Einfluss auf die unterschiedliche Verwertung von Nahrung nehmen. Tatsächlich gibt es auch Forschung, die gezeigt hat, dass manche Darmbakterien bei Frauen und manche bei Männern vermehrt vorkommen.
Auch Männer können an Brustkrebs erkranken und eine Depression haben. Bei Männern wird eine Depression seltener erkannt, zeigen diese auch mal Symptome wie wütendes oder aggressives Verhalten. Und manche Männer nehmen seltener professionelle Unterstützung in Anspruch, da sie einer stereotyp als maskulin gedachten Rollenerwartung entsprechen wollen. Wie hoch sind die Risiken für gender diverse und trans* Menschen an einer affektiven Störung zu erkranken? Bekannt ist der Minoritätenstress, der infolge gesellschaftlicher Ausgrenzung zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zur Entwicklung beispielsweise einer Depression führen kann.
Und welche präventiven Maßnahmen können wir dagegen weiterentwickeln? Zu einer globalen und wertepluralen Gesellschaft gehört es auch, der Diversität in der Medizin angemessen Rechnung zu tragen, angefangen vom Zugang zur Gesundheitsversorgung über die Prävention zur Diagnostik und Therapie.

Personalisierte Medizin berücksichtigt Faktoren, die sich äußeren, inneren, kollektiven und individuellen Bereichen zuordnen lassen.
Der Mensch im Mittelpunkt einer personalisierten Medizin
Zu personalisieren heißt in der Medizin mehr als nur biologisch maßzuschneidern. Vielmehr sind die sozialen Determinanten gleichermaßen individualisiert zu berücksichtigen. Der Mensch soll im Mittelpunkt dieser personalisierten Medizin stehen. Dann muss er einerseits befähigt werden zu partizipieren, um seiner Selbstbestimmung Ausdruck verleihen zu können. Hier ist Aufklärung und Bildungsarbeit zu leisten.
Andererseits müssen wir Professionelle in der Medizin angemessen aus-, weiter-, und fortgebildet sein, um dieser wertoffenen Pluralität entsprechen zu können. Dies wiederum setzt eine empirische Wissensbasis einer geschlechtersensiblen Medizin voraus, die von der Forschung weiter erschlossen werden soll.