Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit, sondern gehören zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten. Allein im Jahr 2017 sind nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation weltweit rund 110.000 Menschen an Masern gestorben, allen voran Kinder unter einem Jahr. Dabei könnte man die Masern aufgrund hoch wirksamer Impfstoffe im Prinzip ausrotten, so wie es im Jahr 1980 mit den Pocken geglückt ist. Tatsächlich aber sind wir davon weit entfernt, auch in Deutschland.
Dies geht aus dem Barmer-Arzneimittelreport 2019 hervor, dessen Schwerpunktthema Impfungen bei Kindern und Jugendlichen ist. Die Analysen erfassen erstmals alle Barmer-versicherten Kinder, auch die ohne Impfpass, und vermeiden damit eine methodenbedingte Überschätzung von Impfquoten. Denn: Die Impflücken bei Kleinkindern in Deutschland sind größer als bisher bekannt. Der Arzneimittelreport 2019 der Barmer liefert aufgrund der gewählten Methodik der Analysen erstmals ein Bild von den tatsächlichen Impfquoten. Denn bei Schuleingangsuntersuchungen werden die Impfquoten oft nur anhand der vorgelegten Impfpässe ermittelt. Dabei wird der Impfstatus von Kindern, die keinen Impfpass vorlegen, nicht berücksichtigt. Das führt zu höheren, unrealistischen Impfquoten, denn nicht geimpfte Kinder haben natürlich auch keinen Impfpass.
Alarmierende Ergebnisse
Die Ergebnisse des Arzneimittelreports sind alarmierend. In Deutschland gibt es trotz steigender Impfquoten deutliche Impflücken bei hunderttausenden Kleinkindern und Jugendlichen. So war mehr als jedes fünfte im Jahr 2015 geborene Kind in den ersten beiden Lebensjahren nicht oder unvollständig gegen Masern geimpft. Im Jahr 2017 waren damit hochgerechnet auf Basis der Daten von Barmer-Versicherten bundesweit knapp 166.000 Zweijährige ohne vollständigen Masernschutz. Zudem war jede fünfte Zweijährige, also knapp 81.000 Mädchen, nicht vollständig gegen Röteln geimpft.
3,3 Prozent der 2015 geborenen Kinder hatten in den ersten beiden Jahren überhaupt keine der 13 Impfungen erhalten, die die Ständige Impfkommission empfiehlt. Das entspricht knapp 26.000 ungeimpften Mädchen und Jungen. Dass in Deutschland immer noch zu wenige Kinder geimpft werden, macht die Ausrottung bestimmter Infektionskrankheiten unmöglich und verhindert den Schutz für all diejenigen, die sich nicht impfen lassen können.
Impflücken sind größer als bisher bekannt
Laut Arzneimittelreport der Barmer gibt es aber nicht nur Impflücken bei den Kleinsten, sondern auch bei älteren Kindern. So wurde bei den Kindern im einschulungsfähigen Alter im Jahr 2017 bei keiner der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten ein Durchimpfungsgrad von 90 Prozent erreicht. Laut Barmer-Arzneimittelreport hatten im Jahr 2017 nur 88,8 Prozent der Sechsjährigen in Deutschland den empfohlenen Masern-Impfschutz. Dabei wäre für eine ausreichende Herdenimmunität, die auch nicht geimpften Personen Schutz bietet, eine Immunisierungsrate von mindestens 95 Prozent erforderlich.
Die Impflücken bei den Sechsjährigen wiegen umso schwerer, da Nachimpfungen nach der Einschulung in fast allen Bundesländern kaum mehr stattfinden, obwohl dies die STIKO etwa für Masern, Mumps und Röteln bis zum 17. Lebensjahr vorsieht. Eine Ausnahme bildet Sachsen, da hier besondere Impfempfehlungen gelten. Wer aber schon als Jugendlicher Impflücken aufweist, der wird sie auch im Erwachsenenalter behalten, wenn nichts geschieht. Auch dadurch steigt das Risiko für regionale Epidemien, wie wir es bei den Masern zuletzt immer wieder erlebt haben. Dass sich die Masern so leicht verbreiten können, liegt auch daran, dass Studien zufolge nur 64 Prozent der 24- bis 30-Jährigen und 32 Prozent der 31- bis 42-Jährigen vollständig dagegen geimpft sind. Vollständig gegen Masern geimpft wurden in den ersten beiden Lebensjahren 73,8 Prozent der im Jahr 2010 geborenen Kinder und 78,9 Prozent der im Jahr 2015 geborenen Kinder.
Impfraten für alle empfohlenen Impfungen unter 90 Prozent
Für alle der 13 empfohlenen Impfungen lagen die Impfraten bei den Kindern im einschulfähigen Alter unter 90 Prozent. Zwei Beispiele machen deutlich, wie schwerwiegend dies ist: Die Impfung gegen Röteln soll das kongenitale Rötelnsyndrom verhindern. 2017 war aber jedes fünfte zweijährige Mädchen nicht ausreichend geimpft. Bis zum Ende des sechsten Lebensjahres stieg die Immunisierungsrate zwar auf 88,8 Prozent, nach dem Schuleintritt gab es aber praktisch keine Röteln-Impfungen mehr. Das, obwohl Impfungen gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen (Windpocken) gemäß STIKO-Empfehlung bis zum vollendeten 17. Lebensjahr nachgeholt werden sollen. Eine von zehn Frauen hat beim Eintritt ins gebärfähige Alter keinen Impfschutz gegen Röteln.
Die Gefährlichkeit der Rötelninfektion liegt in dem Risiko der Schädigung des Embryos beziehungsweise Fetus bei Erkrankung schwangerer Frauen. Bei Rötelninfektion der werdenden Mutter im ersten Drittel der Schwangerschaft kommt es bei 90 Prozent der ungeborenen Kinder zu bleibender Schädigung, aber auch zu Spontanabort oder Frühgeburt. Bei Infektion während des zweiten Schwangerschaftsdrittels wird jedes dritte ungeborene Kind bleibend geschädigt. Das kongenitale Rötelnsyndrom umfasst Defekte des Herzens, der Augen, Innenohrtaubheit, Gehirnentzündung, Herzmuskelentzündung und Mikrozephalie („kleiner Kopf“). Nach der Geburt können Entwicklungsstörungen und -verzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten auftreten.
HPV-Impfung ist Infektions- und Krebsvorsorge
Das zweite Beispiel: Die HPV-Impfung soll Gebärmutterhalskrebs verhindern. Fast die Hälfte – in Bayern sogar 60 Prozent – der Mädchen haben aber keinen ausreichenden HPV-Impfschutz. Dabei ist die HPV-Impfung Infektions- und Krebsvorsorge gleichzeitig. Eine Infektion mit humanen Papillomaviren (HPV) zählt zu den häufigsten sexuell übertragbaren Krankheiten. Praktisch alle Fälle von Gebärmutterhalskrebs sind mit HPV-Infektionen assoziiert. Jährlich erkranken rund 4.500 Frauen in Deutschland an Gebärmutterhalskrebs, etwa 1.500 Frauen sterben jedes Jahr daran. Die Impfung wird ab dem neunten Lebensjahr empfohlen. Sie muss vor einer HPV-Infektion erfolgen, um wirksam zu sein. Bei Impfung im Alter unter 15 Jahren reichen zwei Impfungen aus, um Schutzwirkung zu erreichen. Ab 15 Jahren sind hierzu drei HPV-Impfungen erforderlich. Die Analysen zeigen, dass mehr als ein Drittel der Mädchen bis zum 18. Lebensjahr gar nicht gegen HPV geimpft wurde und dass etwa zehn Prozent der Mädchen zwar eine erste Impfung, aber keine vollständige Immunisierung gegen HPV erhalten. Fast die Hälfte der bei der Barmer versicherten Mädchen dieser Altersgruppe hat damit keinen Impfschutz gegen HPV-Infektionen.
Deutliche regionale Unterschiede bei Impfquoten
Aus dem Arzneimittelreport gehen darüber hinaus deutliche regionale Unterschiede bei den Impfquoten hervor. So waren die Impfquoten bei den Zweijährigen des Jahrgangs 2015 in Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein vergleichsweise hoch und in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen und Thüringen hingegen gering. In Bayern waren auch 5,3 Prozent der Zweijährigen überhaupt nicht geimpft, während dies in Brandenburg nur auf 2,2 Prozent der Kleinkinder zutraf. Ein ähnliches Bild ergab sich bei den älteren Kindern. So waren in Bayern 3,5 Prozent der Sechsjährigen des Jahrganges 2011 gegen keine der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten geimpft. In Brandenburg traf dies nur auf 1,2 Prozent zu.
Digitaler Impfplaner zeigt Impflücken auf
Zur Schließung von Impflücken ist es notwendig, an Impfungen konsequent zu erinnern. Denn viele Bürgerinnen und Bürger kennen ihren Impfstatus nicht genau. Eine repräsentative Umfrage für die Barmer hat ergeben, dass sich jeder Fünfte nicht sicher ist, ob der Impfschutz ausreicht, weil er seinen Impfpass länger nicht mehr geprüft hat. Weitere 16 Prozent hatten Zweifel, weil sie die aktuellen Impfempfehlungen nicht kennen. Aus diesem Grund bietet die Barmer ihren Versicherten einen digitalen Impfplaner an. Er ist Teil des Barmer Gesundheitsmanagers und zeigt Impflücken auf. Auch auf Auffrischimpfungen weist er hin.