Es ist nicht leicht, den ganzen Tag mit der Familie auf engstem Raum zu verbringen. Viele Aktivitäten, wie Ausflüge oder Sport, sind in Zeiten der Corona-Pandemie noch immer nur eingeschränkt möglich. Wir haben Experten gefragt, wie man diese Zeit möglichst harmonisch gestaltet und vielleicht die Situation als Chance begreifen kann.
Auf den ersten Blick schien die Sache einfach zu sein: Zuhause bleiben, das kann ja wohl jeder. Mittlerweile haben viele von uns am eigenen Leib erfahren, dass das ganz schön anstrengend und nervenraubend sein kann. Wir sind es nicht gewöhnt, 24 Stunden mit den gleichen Menschen zu verbringen. Auch – oder gerade – wenn es sich um die eigene Familie handelt.
Einer, der sich mit solchen Situationen besonders gut auskennt, ist Jack Stuster. Der US-Amerikaner arbeitet als Psychologe bei der Weltraumbehörde Nasa und erforscht dort bereits seit über 40 Jahren, wie Menschen, die lange Zeit auf engem Raum zusammenleben müssen, am besten miteinander auskommen. Er hat eine ganze Liste von hilfreichen Tipps zusammengestellt, wie man solche Isolationsphasen am besten übersteht.
Jetzt ist Zeit für alles, was sonst liegenbleibt
Was vor allem zählt, ist die innere Einstellung. „Man sollte das Zuhause-Bleiben als Gelegenheit betrachten und nicht als Hindernis“, sagt Stuster. In den nächsten Wochen ist endlich Zeit für eines dieser Projekte in Haus und Garten, das man sonst immer auf die lange Bank schiebt: Fotoalben kleben, den Keller entrümpeln oder die Zimmerpflanzen umtopfen. „Am besten arbeitet man gemeinsam daran, das schweißt zusammen“, erklärt Stuster. Wer sich vorher eine Liste der anstehenden Arbeiten macht und diese abhakt, hat seinen Erfolg immer vor Augen.
Wichtig sei es außerdem, mindestens einmal täglich gemeinsam zu essen. Gerade für Familien empfiehlt Stuster diesen festen Termin am Tag. Wenn es Ihnen an Inspiration fehlt, dann finden Sie bei der Barmer Ernährungsberatung Rezepte, Tipps und Kochvideos. Zudem sollten besondere Anlässe gefeiert werden, auch wenn man weiterhin noch auf größere Zahl von Gästen verzichten muss. „Wenn gerade kein eigener Geburtstag oder Feiertag ansteht, dann kann man stattdessen die Geburtstage von berühmten Persönlichkeiten feiern, Namenstage oder Jubiläen “, sagt Stuster. Oder man zelebriert zum Beispiel das Bergfest, wenn die Hälfte einer verordneten Quarantäne-Zeit vorbei ist. Denn solche besonderen Ereignisse lassen uns besser wahrnehmen, dass die Zeit doch schneller vergeht, als man denkt.
Jeder muss allein sein dürfen
Auch Brettspiele sind eine gute Beschäftigung, so der Nasa-Psychologe. Sie lockern die Stimmung und bringen auf andere Gedanken. Selbst wer allein wohnt, kann über das Internet mit einem Freund Autorennen oder Karten spielen. Lediglich stark kapitalistische und strategische Spiele wie Monopoly und Risiko sollte man nicht aus dem Schrank holen, denn diese Spiele bergen ein zu großes Konfliktpotenzial.
Bei all der Gemeinsamkeit ist mindestens genauso wichtig, dass jeder im Haushalt die Möglichkeit hat, Zeit allein zu verbringen. Das empfehlen auch Birgitt Hölzel und Stefan Ruzas, die in ihrer Münchner Praxis Paar- und Familientherapie anbieten (und selbst sowohl Paar als auch Eltern sind). „In dieser Ausnahmesituation werden wir neue Facetten an uns und am Partner kennenlernen“, meint Ruzas. Auch wer den ganzen Tag in der gleichen Wohnung verbringt, sollte versuchen, sich hin und wieder gezielt aus dem Weg zu gehen. Das ist weniger kompliziert umzusetzen als es zunächst klingt. „Lesen Sie im Schlafzimmer ein Buch oder stellen Sie sich allein auf den Balkon“, sagt Hölzel.
Wenn beide Partner Home Office machen müssen, sollten sie das ebenfalls in getrennten Räumen tun, selbst wenn dann einer von beiden mit Laptop auf dem Bett oder am Küchentisch sitzt. Hölzel und Ruzas legen Paaren zudem die „Fünf-zu-eins“-Regel ans Herz. Auf jede negative Äußerung müssen fünf positive kommen, dann stimmt die Balance und man fühlt sich wertgeschätzt.
Der Nasa-Psychologe Jack Stuster rät ebenfalls dazu, sich während dieser schwierigen Situation besonders rücksichtsvoll zu verhalten, überdurchschnittlichen Einsatz im Haushalt zu zeigen und darauf zu achten, den anderen nicht auf die Nerven zu fallen. Heißt im Klartext: Die leere Klopapierrolle sofort ersetzen, freiwillig an zwei Abenden hintereinander abwaschen und die Zahnpasta-Tube zudrehen. „Bei allem was sie tun, sollte ihre höchste Priorität sein, mit den anderen Mitgliedern in ihrem Haushalt klarzukommen“, rät der Psychologe.
Der unsichtbare Peter als Puffer
Aber was, wenn all das nichts bringt? Wenn man dem Lagerkoller erliegt und so unausgeglichen wird, dass man sich über jede Kleinigkeit aufregt, ständig mit den Kindern schimpft oder den Frust am Partner auslässt? Erfinden Sie einen Mitbewohner und motzen Sie stattdessen ihn an! Das empfehlen Katja Seide und Danielle Graf, die Bestseller-Autorinnen des Erziehungsratgebers „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“. Anstatt die Kinder anzumeckern, weil tausend Bügelperlen auf dem Teppich verteilt liegen, sagt man stattdessen: „Dieser Peter wieder, schüttet die Perlen aus und macht sich dann aus dem Staub!“ Der imaginäre Peter puffert also den elterlichen Wutanfall ab und sorgt nebenbei noch für Erheiterung. Häufig helfen die Kinder sogar gut gelaunt beim Aufräumen, wenn zunächst Peter für das Chaos im Kinderzimmer verantwortlich gemacht worden ist.
Kinderbetreuung + Homeoffice = Absprachen helfen
Doch selbst solch ein unsichtbarer Sündenbock hilft nicht in jeder Situation. Gerade wer gleichzeitig zu Hause arbeiten und Kinder betreuen soll, kommt schnell an seine Grenzen. Paartherapeutin Birgitt Hölzel empfiehlt eine strikte Aufgabenteilung. Einer der Eltern kann sich aufs Arbeiten konzentrieren, der andere spielt mit den Kindern. Nach 90 Minuten gibt es eine kurze gemeinsame Pause, dann werden die Rollen getauscht.
Der Grundschulverband empfiehlt, dass gerade jüngere Kinder jetzt die Möglichkeit erhalten sollten, selbst zu entscheiden, was sie interessiert und mit was sie sich beschäftigen möchten. Als Eltern sollten sie Vorschläge liefern, aber vor allem die Kinder fragen, was sie tun wollen. Die Möglichkeiten sind vielfältig und decken jedes Schulfach ab. Ermutigen Sie Ihr Kind dazu, ein Tagebuch oder eigene Geschichten zu schreiben (auch am PC oder Handy). Spielen Sie gemeinsam Karten- oder Würfelspiele oder „Stadt-Land-Fluss“. Lesen Sie Ihrem Kind Geschichten vor oder lassen Sie sich erzählen, was Ihr Kind alleine gelesen hat. Nutzen Sie Handys und Tablets nicht nur für den Medienkonsum, sondern werden sie selbst als Produzenten tätig, indem sie mit einer entsprechenden App selbst einen Trickfilm kreieren oder Programmieren lernen. Beobachten Sie beim gemeinsamen Spaziergang Pflanzen und Tiere – was sie nicht kennen, können Sie später im Internet recherchieren.
Wichtig ist in dieser Situation auch, dass man von vornherein seine Erwartungen herunterschraubt. Die Kinder werden vermutlich etwas mehr fernsehen als sonst. Die Arbeit wird vielleicht nicht so schnell fertig wie gewohnt. Die Unordnung ist ein bisschen größer als sonst. Wer sich von vornherein darauf einstellt, verzweifelt später weniger an der Realität. Auch ein Wochenplan kann hilfreich sein. Darin steht, wer wann welche Aufgaben zu erledigen hat. Stusters Tipp: Planen Sie für alle Aufgaben ausreichend Zeit ein. Nichts frustriert Menschen so sehr, wie an unrealistischen Plänen zu scheitern.
Seilspringen, Klettern, Toben oder einfach Spazierengehen
Selbst wenn das Leben auf engem Raum stattfindet, sollte man auf ausreichend Bewegung achten. Zahlreiche Studien haben inzwischen bestätigt, dass regelmäßiger Ausdauersport die Stimmung verbessert. Dazu muss man sich nicht verausgaben, ein täglicher Spaziergang von mindestens einer halben Stunde reicht aus.
Gerade Kinder haben noch einen viel ausgeprägteren Bewegungsdrang. Sie wollen hüpfen, rennen, klettern, idealerweise draußen an der frischen Luft. Wenn das nicht geht, muss man in der Wohnung erfinderisch werden und seine eigenen Prinzipien etwas lockern. War bisher das Klettern auf Couch und Tisch verboten, kann ein Parkour im Wohnzimmer jetzt eine aufregende Beschäftigung für die Kinder sein. Natürlich nur unter elterlicher Aufsicht.
Ältere Kinder und Jugendliche kann man mit Apps oder Videos von der Couch locken. Viele Fitnessstudios oder Vereine bieten jetzt neue Online-Kurse an, die ganz ohne Equipment auskommen. Die Barmer hat ebenfalls viele digitale Möglichkeiten im Angebot, um in den eigenen vier Wänden sportlich aktiv zu werden. Auch ein Fitnesstracker, der die gelaufenen Schritte zählt, wirkt motivierend. Vielleicht macht man auch eine Challenge daraus, welches Familienmitglied die meisten Schritte schafft. Wenn die Zahl am Abend noch immer im dreistelligen Bereich liegt, ruft man am besten einen lieben Freund an und läuft mit dem Telefon in der Hand durch die Wohnung. Dadurch tut man nicht nur seinem Körper, sondern auch seiner Seele etwas Gutes.
Selbst wenn es sich zurzeit nicht so anfühlt – irgendwann wird wieder ein weitgehend "normaler" Alltag möglich sein. Bis dahin gilt es, besonders nett zueinander zu sein und gleichzeitig seine eigenen Grenzen zu wahren.