- Fehlende Gemeinschaft
- Zehn Strategien, um Ihre Seele zu wappnen
- 1. Emotionen annehmen
- 2. Informationen dosieren
- 3. Nach Handlungsmöglichkeiten suchen
- 4. Kanäle für die Anspannung finden
- 5. Empathie üben
- 6. In Kontakt bleiben
- 7. Hilfe suchen
- 8. Routinen beibehalten
- 9. Gesund leben
- 10. Einen anderen Blick einnehmen
Der Pandemie-Stress in Dauerschleife geht nicht spurlos an uns vorbei – und eine Rückkehr zum Alltag ist nicht in Sicht. Weil wir Menschen zutiefst soziale Wesen sind, fürchten wir die Isolation. Doch wir können unsere Psyche wappnen – mit zehn einfachen Strategien.
Abstand halten, Masken tragen und persönliche Kontakte möglichst gering halten. Wir verstehen, dass es den sozialen Abstand, das sogenannte „social distancing“, braucht, um die Verbreitung des Coronavirus zu bremsen. Und doch macht sich Beklemmung in uns breit. Viele Familienbesuche sind ausgefallen, die Enkelkinder haben wir nur am Telefon gehört, sportliche Betätigung ist nur unter strengen Auflagen möglich. An vielen Stellen spüren wir, dass wir nicht im Urlaub auf Balkonien sitzen, sondern inmitten einer globalen Krise. Gerade in diesem Ausnahmezustand möchten wir bei unseren Freunden und unserer Familie sein – und müssen doch auf Abstand bleiben.
So warnt das Leibnitz-Institut für Resilienzforschung in Mainz, die Quarantäne könne zu Stress führen, die Stimmung stark niederdrücken und ein Gefühl der Einsamkeit verursachen. Psychologen fürchten deshalb, dass die aktuelle Notlage nicht nur eine medizinische und ökonomische ist, sondern auch eine psychologische wird. „Alle Fachleute sind sich einig, dass psychische Probleme in der Bevölkerung zunehmen werden“, sagt Alexander Noyon, Psychotherapeut und Professor an der Hochschule Mannheim. „Etwa Angststörungen, Depression, Substanzkonsumstörungen oder Suizide.“ Denn in der Isolation sind unsere Freiheiten stark eingeschränkt. Alltagsroutinen entfallen, Freizeitbeschäftigungen brechen weg.
Fehlende Gemeinschaft
Was für viele Menschen noch weitaus schlimmer ist: Der persönliche Kontakt wird minimiert. Dabei sind gute Beziehungen essentiell für unser Wohlbefinden, das zeigen Befunde aus der Psychologie und Medizin. Menschen ohne stabiles Sozialleben schlafen schlechter, haben einen höheren Spiegel an Stresshormonen im Blut und sind anfälliger für psychische Erkrankungen. Aber auch körperlich leiden wir, wenn wir ohne die Gesellschaft vertrauter Mitmenschen auskommen müssen. Studien deuten darauf hin, dass Einsamkeit das Immunsystem negativ beeinflusst, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht und etliche chronische Gesundheitsbeschwerden begünstigt. Laut Julianne Holt-Lunstad und Timothy Smith von der Brigham Young University ist ein Mangel an sozialen Bindungen damit genauso schädlich wie exzessiver Alkoholkonsum oder 15 Zigaretten am Tag.
„Wir Menschen sind grundsätzlich soziale Wesen. Das ist uns in die Wiege gelegt“, sagt Prof. Alexander Noyon. Sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen ist ein Grundbedürfnis – wie das nach Nahrung oder Wärme. „Die Gemeinschaft gibt uns Sicherheit. Und genau die fehlt uns im Moment.“ Nicht nur, dass ein Virus unsere Gesundheit und unsere Existenzgrundlage bedroht. Der Unsicherheit und Angst stehen wir auch noch alleine gegenüber. „Durch die Isolation haben wir das ungute Gefühl, auf uns selbst zurückgeworfen zu sein“, beobachtet der Psychotherapeut.
Persönliche Begegnungen, Berührungen, Umarmungen – auf all das müssen wir für eine Weile verzichten. Aus guten Gründen, denn nur so kann eine unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus verhindert werden. Doch wir sollten nicht nur unsere Körper schützen, indem wir Abstand halten, Hände waschen und zuhause bleiben. Wir sollten auch auf unsere Psyche achten, sagte Dr. Aiysha Malik vom Department of Mental Health and Substance Abuse der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Europa bei einer Presskonferenz: „Die mentale Gesundheit kann in belastenden Zeiten sehr leiden. Einfache Maßnahmen helfen dabei, sie zu erhalten.“ So bleiben wir auch in der Krise aktive und bewusste Gestalter unserer inneren und äußeren Wirklichkeit.
Zehn Strategien, um Ihre Seele zu wappnen
1. Emotionen annehmen
Plötzlich ist alles anders. Normales wird unnormal, Gewissheiten werden ungewiss. „Im durchschnittlichen westlichen Dasein war es bisher selbstverständlich, dass unsere Grundbedürfnisse befriedigt werden. Jetzt stellen wir uns plötzlich Fragen, die sich die meisten von uns noch nie stellen mussten“, sagt Prof. Alexander Noyon. Hinzu kommt: „Die Krise bringt uns in Kontakt mit unserer Sterblichkeit und nimmt uns die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben.“ Das verunsichert und macht uns Angst. Vielleicht aber auch traurig, albern, wütend oder frustriert. Egal welche Emotionen auftauchen: Wir sollten sie uns zugestehen. Dass eine unbekannte, bedrohliche Situation unsere Gefühlswelt durcheinanderwirbelt, ist ganz normal. Trotzdem sollten wir uns nicht von starken Stimmungen leiten lassen. Werden etwa Angst oder Wut übermächtig, können wir nicht mehr klar denken. Sich die eigenen Emotionen bewusst zu machen und mit nahestehenden Menschen darüber zu sprechen, hilft dabei, nicht in Panik zu verfallen oder irrational zu handeln.
2. Informationen dosieren
Stündlich prasseln neue, schaurige Nachrichten auf uns ein. Fast täglich ändert sich die Lage. Wer in dieser Flut aus Bildern, Daten und Zitaten nicht untergehen möchte, muss sich mit der richtigen Strategie wappnen, bevor er sich in die Strömung stürzt. Vertrauenswürdige Quellen können dabei ein Rettungsanker sein. Sie helfen, an alle entscheidenden Informationen zu kommen und die aktuellen Entwicklungen zu verstehen. Und sie geben das Rüstzeug, um Kommentare aus dem Kollegen-, Freundes- oder Familienkreis kritisch zu hinterfragen. Ebenso wichtig sind aber auch regelmäßig Nachrichtenpausen. Sie verhindern, dass wir uns überfordern und in Sorgenschleifen verlieren. Dr. Aiysha Malik empfiehlt: „Setzen Sie sich Inhalten, die sie erschüttern, so wenig wie möglich aus.“ Vorsicht ist vor allem in sozialen Medien geboten, die für ihre Falschmeldungen und irreführenden Darstellungen von Einzelfällen berüchtigt sind.
3. Nach Handlungsmöglichkeiten suchen
Was kann ich tun? Wo kann ich helfen? Wie kann es weitergehen? Die Antworten auf diese Fragen geben uns Handlungsspielraum zurück und den können wir gerade dringend gebrauchen. Denn angesichts der Corona-Pandemie erleben wir einen immensen Kontrollverlust. Alltag, Beruf, Gesundheit – vieles scheint uns zu entgleiten. Übernehmen wir aber die Einkäufe für unsere Nachbarn, organisieren wir einen digitalen Spieleabend im Freundeskreis oder starten wir eine Initiative für die Obdachlosen der Stadt, kämpfen wir damit gegen die eigene Ohnmacht an. Im Kleinen merken wir, dass wir Einfluss haben: Wie wir uns verhalten, macht einen Unterscheid. Doch wie immer kommt es auf die richtige Dosis an. In Aktionismus zu verfallen ist langfristig genauso kontraproduktiv wie stures Verdrängen.
4. Kanäle für die Anspannung finden
„Wir sind alle Experten für unser eigenes Wohlbefinden“, sagt die Psychologin Aiysha Malik von der WHO in Europa. „Was sich in der Vergangenheit bewährt hat, kann auch jetzt helfen.“ Alles, was uns Kraft gibt und den Stress reduziert, sollten wir wichtiger nehmen denn je: Sport, Entspannungstechniken, Lesen, Kochen, Musik machen, Baden oder Briefmarken in das Sammelalbum kleben. „Egal welche Aktivität es ist, die für Sie entspannend ist und die Sie in eine positive Stimmung versetzt – legen Sie los, solange es Sie und andere nicht gefährdet.“
5. Empathie üben
Die Nerven liegen blank und die Zündschnur ist kurz. Schnell wächst die Wut über die plaudernden Herrschaften vor dem Supermarkt, schnell ist das Urteil über die zaudernden Politiker gefällt. Wir alle müssen aufpassen, dass aus dem „social distancing“ kein „social blaming“ wird. Denn: „Krisen sind Gefahr und Chance zugleich“, sagt Prof. Alexander Noyon. „Das gilt für Individuen genauso wie für die ganze Gesellschaft.“ Wünschen wir uns, dass die Gemeinschaft gestärkt und nicht geschwächt aus dieser Zeit hervorgeht, müssen wir uns also an die eigene Nase fassen. „Jeder sollte schauen, dass sein Verhalten möglichst mit den eigenen Zielen und Werten übereinstimmt“, so Noyon. „Und gerade jetzt großzügig über Ärgernisse hinwegsehen, solange kein höheres Gut betroffen ist.“ Konkret heißt das: andere Meinungen aushalten, andere Menschen schützen, andere Bewältigungsstrategien respektieren.
6. In Kontakt bleiben
Auch wenn er sich in der öffentlichen Diskussion längst durchgesetzt hat: „Social distancing“ ist ein irreführender Begriff. Schließlich zielen die Kontaktbeschränkungen nicht darauf ab, soziale Kontakte zu verhindern. Die Psychologin Aiysha Malik spricht deshalb lieber von „physical distancing“ – körperlichem Abstand. „Und der bedeutet nicht, dass wir unsere Beziehungen abbrechen sollen. Es gibt viele Wege, miteinander in Kontakt zu bleiben, und das ist gerade wichtiger denn je.“ Über E-Mails, Videotelefonie oder Chatprogramme – oder vielleicht auch ganz klassisch: Briefe – können wir unsere Freunde und Familienmitglieder an unserem Leben teilhaben lassen. Sorgen und Ängste haben im Austausch ebenso Platz wie der neue Alltag und das Schöne, das es oft immer noch zu berichten gibt.
7. Hilfe suchen
Besonders hart treffen die Ausgangsbeschränkungen all jene, die ohne soziales Netz auskommen müssen. Auch für Menschen mit psychischen und körperlichen Erkrankungen oder in schwierigen Lebensumständen ist die Isolation eine enorme Belastung. Sie sollten nicht zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Wenn zum Beispiel die Angst oder Niedergestimmtheit unaushaltbar wird, wenden Sie sich an das Patiententelefon der kassenärztlichen Vereinigung (116117) oder die Telefonseelsorge (0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222)“, rät das Leibnitz-Institut für Resilienzforschung. „Sollten Sie akute Suizidgedanken haben, nehmen Sie sofort Kontakt mit dem Notdienst Ihrer örtlichen psychiatrischen Klinik oder dem Rettungsdienst (112) auf.“
8. Routinen beibehalten
Auch wenn der Arbeitsplatz sicher und niemand im Umfeld an COVID-19 erkrankt ist, stellt sich bei vielen Menschen ein Gefühl des Ausnahmezustands ein. Und dieser Zustand kostet Kraft. Alles muss neu sortiert werden, nichts ist wie es war. Diesem Eindruck sollten wir Routinen entgegensetzen, denn: „Ein äußerer Rahmen gibt innere Struktur“, sagt der Psychotherapeut Alexander Noyon. „Wir sollten also nicht bis 12 Uhr im Schlafanzug bleiben, auch wenn wir im Homeoffice sind.“ Muster, Gewohnheiten, Abläufe – sie geben unserem Leben einen Takt und verhindern, dass wir durch die Tage schlingern. Feste Schlafens-, Arbeits- und Essenszeiten helfen dabei ebenso wie neue Rituale, die erst in der Isolation entstehen. Etwa das gemeinsame Kochen mit der besten Freundin vor der Kamera oder die Gute-Nacht-Geschichte, die Oma ihren Enkeln am Telefon vorliest.
9. Gesund leben
Die Ratschläge klingen fast zu einfach angesichts der komplexen Situation: ausreichend schlafen, gesund essen, regelmäßig bewegen. „Doch wir dürfen nicht unterschätzen, wie wichtig es ist, uns um die eigenen Grundbedürfnisse zu kümmern“, sagt Dr. Aiysha Malik von der WHO in Europa. „Wir fühlen uns mental deutlich besser, wenn es uns körperlich gut geht.“ Dazu gehört für die Psychologin auch, auf ungünstige Bewältigungsstrategien wie Alkohol- und Tabakkonsum zu verzichten.
10. Einen anderen Blick einnehmen
Ohne zu wissen, was kommt und wie es weitergehen wird, hilft vielen nur das Leben in kleinen Häppchen. Tag für Tag, Woche für Woche. Manchmal ist es aber auch der größere Blick, der die momentane Situation erträglicher macht. Zum Beispiel der Blick in die Zukunft: Irgendwann wird es eine Zeit nach Corona geben, in der die Gegenwart nur noch eine Erinnerung ist. Auch die Perspektive von anderen Menschen kann das Empfinden verändern. So schreibt das Leibnitz-Institut für Resilienzforschung: „Möglicherweise stellt sich bei Ihnen infolge der Einschränkungen ein Gefühl der Dankbarkeit ein, wie reich unser Leben hier in Deutschland ist und wie sich andere Menschen fühlen, die über Monate in beengten Unterkünften leben müssen.“