Porträt von Professor Ortwin Renn
Unfälle und Verletzungen

Prof. Ortwin Renn: Warum Vorsicht zu unserem Leben dazugehört

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Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Dirk Weller (Diplom-Psychologe)

Wir leben heute so sicher wie nie zuvor. Trotzdem dominieren Haushaltsunfälle die Unfallstatistik. Woran das liegt und wie wir lernen, Gefahren im Alltag realistischer einzuschätzen, erklärt Risikoforscher Prof. Ortwin Renn im Interview mit der Barmer. 

Wie kommt man besser durchs Leben: als Angsthase oder als Draufgänger?

Professor Ortwin Renn: Beide Extreme sind ungesund. Der Angsthase kommt wahrscheinlich länger durchs Leben, er hat aber ein recht langweiliges Dasein. Draufgänger kommen zu mehr Abwechslung, nehmen aber mehr Risiken auf sich, als sie sollten. Es gibt Menschen, die keine Angst empfinden können, zum Beispiel nach einem Unfall. Aus klinischen Studien wissen wir, dass diese Menschen nicht besonders lange leben. Angst ist ein wichtiger Auslöser von Vorsicht, und Vorsicht gehört zu einem gelingenden Leben dazu.

Haben Sie einen Namen für die goldene Mitte zwischen diesen Extremen?

Professor Ortwin Renn: Es geht hier um das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Wer verhältnismäßig handelt, kann abwägen zwischen dem, was eine Aktivität an Nutzen oder Freude bringt, und ihren möglichen negativen Nebenwirkungen. In ein fremdes Land zu reisen, obwohl der Standard der Gesundheitsversorgung dort niedrig ist, kann das Leben durchaus bereichern.

Um das Risiko möglichst weit zu minimieren, gilt es, Vorkehrungen zu treffen: sich impfen zu lassen, einen Vorrat an Medikamenten mitzunehmen, eine Reiserückholversicherung abzuschließen. Wenn ich dagegen beschließe, einen Dreitausender in Turnschuhen erklimmen zu wollen, ist das keine abgewogene Entscheidung. Dann folge ich einem spontanen Impuls oder gebe mich der Illusion hin, unverwundbar zu sein. Wer so handelt, fordert Unfälle geradezu heraus.

Als Risikoforscher müssten Sie selbst doch eigentlich eher ein Angsthase sein, oder?

Professor Ortwin Renn: Mein Beruf trägt sicherlich dazu bei, dass ich eher zu Kopf- als zu Bauchentscheidungen tendiere. Schon als Kind bin ich aber nicht auf hohe Bäume geklettert und habe mir nie den Arm gebrochen. Das evolutionäre Programm gibt dem Menschen drei Reaktionsmöglichkeiten mit, wie er auf eine akute Bedrohung reagiert. Wer im Dschungel einem Tiger begegnet, kann sich totstellen, fliehen oder den Kampf aufnehmen. Ich gehe Gefahren lieber aus dem Weg und bin eher auf Flucht als auf Kampf eingestellt.

Ist das eine Programm besser als das andere?

Professor Ortwin Renn: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Gerade während der aktuellen Corona-Pandemie lassen sich diese Grundmuster gut beobachten: Es gibt Menschen, die sich einigeln und aus Angst vor Ansteckung nicht einmal mehr einkaufen gehen. Andere Menschen suchen sich Ersatzobjekte, auf die sie aggressiv losgehen, weil sie das Virus nicht direkt angreifen können. Und es gibt Menschen, die weiterleben, als wäre nichts, und sich wegducken in dem Vertrauen, dass es sie schon nicht erwischen werde.

Typische Reaktionsmuster können je nach Situation schnell schwanken: Als Fußgänger im Großstadtverkehr wird man schnell zum defensiven Angsthasen.

Professor Ortwin Renn: Als Autofahrer fühlt man sich leicht in der stärkeren Position, man fährt durch die Pfütze, egal ob der Fußgänger daneben nass wird oder nicht. Als Fußgänger ist man in einer schwächeren Position. Deshalb ist es strategisch besser, sich nicht mit dem Auto anzulegen. In dem Moment, in dem ich Autofahrer bin und aggressiv auftrete, sollte ich mich trotzdem fragen, ob das eigene Verhalten der Situation angemessen ist – auch weil ich eine moralische Verantwortung habe: Ich muss mir bewusst sein, dass ich das Risiko nicht nur für mich, sondern auch für andere erhöhe.

Glaubt man Umfragen, haben Menschen vor allem Angst vor Terroranschlägen oder Flugzeugabstürzen. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, davon betroffen zu sein, sehr gering.

Professor Ortwin Renn: Zum einen fürchten sich Menschen eher vor Gefahren, die sie nicht aus eigener Erfahrung kennen oder begreifen können: radioaktive Strahlung etwa oder Pestizidrückstände und Gentechnik in Lebensmitteln. Hier muss man den Warnungen oder Entwarnungen anderer vertrauen. Zum anderen erleben wir in Deutschland zum Glück nur wenige katastrophale Ereignisse wie Erdbeben, Wirbelstürme oder große Explosionen. Wenn doch einmal etwas passiert, wird das in der Wahrnehmung leicht überhöht – also zum Beispiel Terroranschläge, die eine enorme symbolische Sprengkraft haben. Darüber wird intensiv diskutiert. Und Angst ist ansteckend.

Fürchten wir uns also vor den falschen Risiken?

Professor Ortwin Renn: Wenn man sich die Statistiken ansieht, woran Menschen in Deutschland vorzeitig sterben, lassen sich zwei Drittel der Todesfälle unter 70 Jahren auf Rauchen, Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung zurückführen. Vier wahre Killer, die uns aber so vertraut sind, dass man sie in ihrer Wirkung leicht unterschätzt. Wahrnehmung und tatsächliches Risiko liegen hier weit auseinander. Das Paradoxe daran ist, dass wir ausgerechnet bei diesen Gesundheitsgefahren besonders viel selber tun könnten, um unser Leben sicherer zu gestalten.

Was ist die Ursache: konsequentes Verdrängen?

Professor Ortwin Renn: Jedem fällt eine Person ein, die über 90 Jahre alt wurde, obwohl sie viel geraucht und sich schlecht ernährt hat. Wenn diese Person es schafft, so denkt man leicht, dann wird es mich auch nicht treffen. Das ist natürlich ein Trugschluss: Wir nehmen vor allem Informationen auf, die unsere eigene Meinung bestätigen. Andere blenden wir eher aus.

Sieht man sich die Unfallstatistik an, stehen Unfälle im Haushalt weit vorn. Werden die Gefahren im Haushalt unterschätzt?

Professor Ortwin Renn: In den 1960er-Jahren hatten wir in Deutschland pro Jahr mehr als 20.000 Verkehrstote. Heute sind wir bei 3.500. Wenn man sich die Todesfälle pro gefahrenem Kilometer ansieht, ist diese Rate um den Faktor 16 zurückgegangen. Ähnliches gilt für Arbeitsunfälle, auch sie sind drastisch zurückgegangen. Das ist die gute Nachricht.

Auf der anderen Seite haben wir heute zwar nicht entscheidend mehr Haushaltsunfälle als früher. Es fallen nicht mehr Menschen von der Leiter als einst. Im Vergleich ist ihr Anteil an allen Unfällen aber relativ gesehen gestiegen – ein rein statistischer Effekt. Diese Umschichtung entspricht aber nicht automatisch der Wahrnehmung der Menschen. Der Haushalt im wahrsten Sinne des Wortes ist etwas so Alltägliches, dass sich kaum jemand über einen Haushaltsunfall aufregt. Auch weil es keinen Schuldigen gibt, keinen Sündenbock, den man zur Verantwortung ziehen könnte – außer sich selbst.

Warum hat es bei Arbeitsunfällen so gut geklappt, das Risiko zu reduzieren?

Professor Ortwin Renn: Es ist eine Mischung aus Fortschritt in der Technik, besserer Organisation von Sicherheitsmaßnahmen und gezieltem Training des Personals. Die Technik ist weniger anfällig für Ausfälle und Bedienungsfehler geworden. Gleichzeitig greifen Sicherheitsvorkehrungen auch dann, wenn Menschen unvorsichtig werden, weil sie sich aus reiner Gewohnheit zu sicher fühlen.

Trotzdem ist jeder Unfall einer zu viel. Ist eine Welt ohne Unfälle aber überhaupt realistisch?

Professor Ortwin Renn: Nein, ein Nullrisiko kann es nicht geben. Hierfür müssten wir alle unser Tun einstellen – und das ist nicht wünschenswert. Wir sollten aber immer versuchen, Risiken möglichst weit zu minimieren.

Wahrheit oder Humbug?

Diese Sprichwörter kennen Sie bestimmt. Risikoforscher Prof. Ortwin Renn bewertet sie auf ihren Wahrheitsgehalt.

"Vorsicht ist besser als Nachsicht."
Es ist fast trivial, stimmt aber natürlich. Nachsicht bedeutet, dass man einen Schaden erlitten hat. Wenn man ihn von vornherein vermeiden kann, ist das auf jeden Fall besser und vernünftig.
"Wer nicht wagt, der nicht gewinnt."
Wer keinerlei Risiken eingeht, hat ein recht langweiliges Leben. Für manchen Menschen ist das vielleicht auch gut so – aber bestimmt nicht für jeden. Wer gewinnen will, muss aber immer darauf bedacht sein, dass er auch verlieren kann.
"Sicher ist, dass nichts sicher ist."
Dass wir mit Unsicherheiten leben müssen, ist eine Tatsache. Morgen kann ein Meteorit auf der Erde einschlagen, ohne dass wir es beeinflussen könnten. Wir können nicht alles mit Sicherheit berechnen und vorhersagen. Das Wissen, das verfügbar ist, sollte man aber nutzen, um Risiken bestmöglich einzuschätzen – auch wenn immer eine Portion Unsicherheit verbleibt.
"Der Preis der Freiheit ist die Sicherheit."
Sprichwörter neigen zu einer stark vereinfachten Alles-oder-nichts-Perspektive. Sicherheit ist immer auch die Grundbedingung für Freiheit. Wenn ich nicht weiß, ob mir jemand den Kopf einschlägt, sobald ich das Haus verlasse, kann ich mich auch nicht frei bewegen.
"Ohne Sicherheit ist keine Freiheit."
Das ist wahr. Natürlich kann ein Übermaß an Sicherheitsvorkehrungen die individuelle Freiheit bedrohen. Ohne ein Grundmaß an Sicherheit wird man seine Freiheit aber nicht ausleben können.

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