Regina Vetters, Leiterin der BARMER.i
Digitale Ethik

Der richtige Zeitpunkt für digitale Ethik? Jetzt!

Lesedauer unter 8 Minuten

Autor / Interview

  • Barmer Internetredaktion

Zur Person

  • Doktorin Regina Vetters war bis zum 31. Mai 2021 Leiterin der Innovationsabteilung der Barmer.

Warum wir vor neuartigen ethischen Fragen stehen, auf die es oft noch keine vorgefertigten Antworten gibt, wenn wir eine Digitalstrategie, eine Digitalagenda und schließlich digitale Services und Produkte entwickeln, erläutert Dr. Regina Vetters, Leiterin der Innovationsabteilung Barmer.i im Interview zu Digitaler Ethik bei der Barmer. Sie zeigt jedoch keine Neigung, sich darauf auszuruhen, dass die Barmer acht digitale Werte formuliert hat. Stattdessen beschreibt sie, inwiefern die eigentliche Arbeit der Anwendung einer digitalen Ethik jetzt erst richtig anfange.

Die Barmer hat sich als erste deutsche Krankenkasse Leitlinien zum Umgang mit Digitaler Ethik gegeben. Braucht es wirklich eine digitale Ethik? Warum lassen sich die Regeln der analogen Welt nicht einfach übertragen?

Regina Vetters: Grundsätzlich ist das Gesundheitswesen ein Feld, das immer eng mit ethischen Fragen verbunden ist. Der Schutz sensibler Gesundheitsdaten beispielsweise ist seit jeher ein hohes Gut für alle Mitarbeiter. Durch die Digitalisierung sind aber auch viele neue Fragestellungen hinzugekommen, für die es noch keine fertigen Antworten gibt. Daher ist das in dieser Form schon ein neues Thema für uns.
Wir investieren sehr viel Zeit, Kraft, Geld und Herzblut in die Digitalisierung der Barmer. Da ist es uns auch wichtig, dass wir „das Richtige“ tun. Hype oder handfeste Innovation? Diese Frage stellen wir uns häufiger. Und da hilft es, sich vorher fundiert Gedanken darüber zu machen, was uns eigentlich wichtig ist. Vielleicht schießen wir auch mal über das Ziel hinaus oder machen Fehler. Das gehört zur Digitalisierung dazu, denn es ist ein iterativer und ergebnisoffener Prozess. Aber werteoffen ist er für uns auf gar keinen Fall.
Aktuell ist die technische Entwicklung oft schneller als die eigentlich ja wünschenswerte regulatorische Einbettung oder die gesellschaftliche Diskussion. Das birgt die Gefahr, dass Fakten geschaffen werden. Für das Arzt-Patienten- und Kassen-Versicherten-Verhältnis haben wir klare Normen, für Entwickler und Anbieter digitaler Gesundheitsanwendungen gibt es die hingegen noch nicht. In vielen Dingen ist noch vollkommen offen, welche Auswirkungen die Entwicklungen von heute haben werden. Nichts zu tun ist aber auch keine Lösung, im Gegenteil. Dann würden wir nämlich lebensrettende Innovationen verhindern oder uns selbst die Kraft nehmen, gestaltend einzugreifen. Also brauchen wir eine aktive Auseinandersetzung.

Das Gesundheitssystem besteht ja aus vielen Akteuren – Ärzte, Krankenhäuser, Arzneimittelhersteller, Politik, Krankenkassen und andere. Wie sehen Sie in diesem Spannungsfeld die Rolle der Barmer beim Thema Digitale Ethik? Sind nicht auch die Politik, die ganze Gesellschaft, vielleicht sogar jeder Einzelne gefragt?

Regina Vetters: Die Barmer hat nicht den Auftrag, eine digitale Ethik für die gesamte Medizin und das Gesundheitswesen als solches zu konzipieren. Eine solche sollte in von der Politik angestoßenen und gesellschaftlich legitimierten Diskursen entwickelt werden, mit Beteiligung von großen Branchenverbänden und nicht zuletzt mit Patientenverbänden und -vertretern und vielen weiteren Akteuren wie auch berufsständischen Vertretungen. Dennoch sollten unsere Barmer-Versicherten und -Mitarbeitenden bereits heute eine grundlegende Orientierung an die Hand bekommen, wie wir die Digitalisierung der Gesundheitswelt aus ethischer Sicht mitgestalten und voranbringen möchten. Unsere eigene digitale Transformation können wir schließlich auch selbst gestalten, aber wir mischen uns zudem in die gesundheitspolitische Debatte ein und begleiten die gesundheitlichen Aspekte der Digitalisierung unserer Gesellschaft.

Die digitale Ethik könnte man auch so interpretieren, dass die Versicherten eigentlich vor der Digitalisierung geschützt werden sollten. Oder muss vielleicht die Digitalisierung vor den Ängsten der Menschen geschützt werden? Welchen Beitrag kann dabei die digitale Ethik leisten?

Regina Vetters: Mit Schwarz-Weiß-Kategorien kommen wir nicht weiter. Technik ist ja weitgehend agnostisch und Wandel ist in alle Richtungen gleichermaßen denkbar, denn es gibt unheimliche Chancen, aber auch Risiken.
Digitalisierung kann Ungerechtigkeiten aufheben, weil Anwendungen für alle skalierbar sind, und sie kann neue Grenzlinien ziehen. Digitalisierung kann Patienten zu mehr Selbstbestimmung führen oder Entscheidung und Kontrolle in die Hände der Technik legen. Sie kann mobilisieren oder manipulieren.

Was dabei Angst macht, ist vor allem die Komplexität, die eigene (vermeintliche) Bedeutungslosigkeit angesichts der Größe der Umwälzungen, und dass man zum Beispiel nicht absehen kann, welche Konsequenzen unser heutiges Nutzungsverhalten in der Zukunft haben könnte. Umso wichtiger ist es darum, dass wir anfangen zu diskutieren, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit digitalen Technologien aussehen könnte.

Sie leiten die Innovationsabteilung der Barmer und haben mit den diversen Beteiligten für die Barmer eine anspruchsvolle Digitalagenda definiert. Unter anderem geht es darum, die Barmer als führende Krankenversicherung für digitale Services zu etablieren und neue Standards in der Versorgung zu gestalten, aber auch um eine offene Unternehmens- und Innovationskultur. Wann ist dabei der richtige Zeitpunkt, sich mit digitaler Ethik zu beschäftigen?

Regina Vetters: Jetzt! Wir haben die Grundlagen geschaffen, die Barmer für die Zukunft digital auszurichten. Wir haben erste Projekte umgesetzt, Erfahrungen gesammelt und dabei die Digitalkompetenz weiterentwickelt. Insgesamt stehen wir noch immer am Anfang der digitalen Transformation des Gesundheitswesens, aber wir sind reif genug, zumindest schon mal Fragen zu stellen, die manchmal auch weh tun. In manchen Bereichen zeichnen sich erste grundlegende Übereinstimmungen in den Sichtweisen ab, aber bei ganz vielen Fragen zum Umgang mit KI, Datenweitergabe, Nutzerorientierung, Patientensouveränität oder Evidenzanforderungen suchen wir gesellschaftlich und damit auch in der Barmer weiter nach Orientierung.

Bei der Definition einer Digitalen Ethik für die Barmer sind acht Werte formuliert worden. Das sind:
1. Menschenorientiert/patientenzentriert,
2. Souverän/selbstbestimmt,
3. Solidarisch/kooperativ,

4. Transparent/aufklärend,
5. Verantwortlich/verlässlich,
6. Sicher/geschützt,
7. Wirtschaftlich/fokussiert,
8. Nutzenstiftend/unterstützend.

Welche sind Ihnen besonders wichtig und bei welchen Innovationsprojekten spielen diese Werte eine große Rolle?

Regina Vetters: Werte lassen sich nicht priorisieren! Die verschiedenen Werte adressieren aber unterschiedliche Akteure. Wir wünschen uns einen solidarischen Umgang mit Daten und App-Entwickler, die verlässliche Produkte herstellen. Primat aller IT-Umsetzungen ist die Sicherheit. In der Barmer.i beginnen wir alle unsere Projekte bei den künftigen Nutzerinnen und Nutzern, daher ist menschenorientiert/patientenzentriert immer zentral. Dazu liegt mir transparent/aufklärend sehr am Herzen. Erfolgreiche Digitalprodukte stellen den Konsumenten ins Zentrum; im Gesundheitssystem gibt es diese Marktbeziehung nicht. Das ist auch gut so! Zugleich spüren wir, dass das hierarchische Herrschaftswissen des hochregulierten Gesundheitssystems nicht so recht zur heutigen Kultur passt. Die Lösung zwischen diesen treibenden Kräften sehe ich in einem transparenteren Gesundheitssystem, in dem ein Patient oder Versicherter jederzeit weiß, was mit seiner Behandlung oder seinen Anträgen gerade passiert. Damit können sich alle auf Augenhöhe begegnen, ohne dabei in eine marktwirtschaftliche Beziehung zu geraten.

Im Rahmen der digitalen Ethik wird auch das Thema Datenspende thematisiert. Welche Chancen und Risiken sehen Sie?

Regina Vetters: Daten spenden ist ein bisschen wie impfen. Im besten Fall habe ich auch selbst was davon, aber ich leiste damit ebenfalls einen Beitrag für die Allgemeinheit. Mit besseren Daten können möglicherweise lebensrettende Therapien entwickelt werden. Wir versuchen einerseits, ein neues Schutzniveau für den selbstbestimmten Umgang mit Daten zu etablieren, aber auch, die Datenverarbeitung für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung zu ermöglichen. Wenn glasklar geregelt ist, wer die (anonymisierten) Daten verwenden darf, und im Idealfall später die Nutzer auch Rückmeldungen bekommen, was mit ihren Daten passiert ist, kann man Vertrauen schaffen.

Ein wichtiges Thema bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist die elektronische Patientenakte (ePA). Worum geht es bei der elektronischen Patientenakte und welche ethischen Fragestellungen gibt es dabei, worauf achtet die Barmer besonders bei der Entwicklung dieser Akte?

Regina Vetters: In der Entwicklung gehen wir aktuell zweistufig vor. Erstmal steht Sicherheit über allem, danach ist Nutzerfreundlichkeit unsere Prio 2, damit die Nutzerinnen und Nutzer Mehrwerte wie Transparenz, Nutzen oder Selbstbestimmtheit überhaupt einlösen können.
Grundsätzlich kommt aktuell in der Diskussion um das reine „wir machen das jetzt bis zum 1. Januar 2021“ oder aber „das geht nicht, solange das abgestufte Berechtigungsmanagement noch nicht perfekt ist“ die Diskussion um den erhofften Nutzen viel zu kurz. Unsere Versicherten berichten uns von ganz anderen Bedenken, etwa: „Vielleicht ist mein Hausarzt sauer, wenn er sieht, dass ich auch noch bei einem anderen Arzt war.“ Oder: „Muss ich dann eine Rechnung befürchten, wenn die Untersuchung zweimal gemacht wurde?“ Solche Fragen erleben wir in unseren Nutzertests. Wenn man jetzt die Werte heranziehen will, dann ist klar: Unsere eCare-Patientenakte soll in erster Linie den Menschen helfen, die Daten sind geschützt (wir Kassen sehen nichts davon) und der Patient ist souverän und hat beispielsweise das Recht auf eine Zweitmeinung.

Künstliche Intelligenz wird als Schlüsseltechnologie der Zukunft auch im Gesundheitsbereich angesehen. Dabei geht es beispielsweise um die Früherkennung von Krankheiten, validere Diagnostik und eine zukunftsgerichtete Versorgung, die bezahlbar für alle Menschen bleibt. Welche ethischen Fragestellungen kommen bei dieser Schlüsseltechnologie auf die Krankenkassen zu?

Regina Vetters: Grundsätzlich gibt es eine Riesenchance, dass KI-unterstützte Prozesse die Fähigkeiten und Erfahrungen der Medizinerinnen und Mediziner unterstützen. Im besten Fall kann KI deren Entscheidung verbessern. Die Realität ist wiederum längst nicht so eindeutig. Wie können Mediziner bislang beurteilen, ob die Vorschläge der KI-basierten Systeme wirklich besser sind? Weder ist die Ausbildung von Ärzten darauf ausgelegt, diese Kompetenz zu vermitteln, noch ist garantiert, dass die Algorithmen fehlerlos oder repräsentativ für alle Patientengruppen sind. Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen oder Migranten in vielen Studien unterrepräsentiert sind. Wenn die ersten Nutzer digitaler Lösungen junge, weiße Männer sind, verstärkt sich das sogar noch und die KI-Empfehlungen werden dann möglicherweise auf Basis genau dieser Daten optimiert. Hier repräsentative Verlässlichkeit einzufordern oder zumindest Transparenz über mögliche Verzerrungen zu schaffen, ist beispielsweise eine Rolle, die wir als Barmer einnehmen wollen.

Ist es nicht schwer, angesichts des rasanten technischen Fortschritts auch bei den ethischen Fragestellungen immer am Ball zu bleiben? Was bedeutet das für den jetzt gesetzten Ethikrahmen der Barmer?

Regina Vetters: Wir haben aktuell einen Rahmen geschaffen, der erstmal die aktuell wichtigsten Fragestellungen umfasst. Die konsentierten Werte müssen wir jetzt weiter mit Leben füllen und in der Praxis anwenden. Zugleich ist klar, dass wir das immer wieder auf den Prüfstand stellen müssen – die eigentliche Arbeit hat gerade erst begonnen.

Wie wird die Barmer zukünftig die Beschäftigten auf diesem Weg mitnehmen und wie können die Mitarbeiter auch im Alltag damit arbeiten?

Regina Vetters: Dort, wo täglich Entscheidungen getroffen werden, gibt es ganz klare Regeln, etwa zum Umgang mit Daten und deren Schutz, aber auch zur grundsätzlichen Menschenorientierung. Da zeigen wir unseren Kolleginnen und Kollegen vor allem, dass die Digitalisierung hier nichts infrage stellt. Ansonsten kommunizieren wir die Werte intern über Intranet, Mitarbeiterzeitung und über Schulungsangebote. Und dort, wo digitale Angebote entwickelt werden, thematisieren wir das auch ganz offensiv: Ist das nutzenstiftend? Trauen wir uns, bei Ablehnungen transparent zu sein? Warum ist der Login zur ePA-elektronische Patientenakte leider etwas kompliziert? Das sind alles ganz praktische Anwendungsfelder in unserem Alltag.